Mittwoch, 9. Juni 2004
Bericht über die Podiumsdiskussion des Schwäbischen Tagblatts zur Tübinger Gemeinderatswahl
Schwäbisches Tagblatt: 09.06.2004
Stimmung in der Publikumsrunde

Trotz des warmen Sommerabends fast 200 Zuhörer beim TAGBLATT-Podium zur Gemeinderatswahl

Warum ist Dietmar Schöning immer noch in der FDP? Und warum ist Anton Brenner so geschickt darin, im politischen Diskurs Wesentliches wegzulassen? Solche Fragen kommen auf, wenn Tübingens Stadträte zum gegenseitigen Interview ans Mikrofon gebeten werden. Allerdings ging es gestern Abend beim gut zweistündigen TAGBLATT-Podium nicht nur spaßig zu. Vor knapp 200 Interessierten kamen in der Lustnauer Turn- und Festhalle alle wichtigen Streitpunkte der Tübinger Kommunalpolitik aufs Tapet.

Die größte Gemeinsamkeit zeigte sich dabei beim Stichwort B 28 durchs Neckartal: Mit Ausnahme von AL/Grünen wollen alle Listen die Chance ergreifen, die Straße zügig vom Tübinger Freibad bis zur Abzweigung nach Hirschau vierspurig auszubauen. Für die Finanzierung des Tübinger Eigenanteils – es ist von bis zu 750 000 Euro die Rede – hoffen die Fraktionen, den bei der Sanierung der Derendinger Straße einzusparenden Betrag von rund 200 000 Euro als Grundstock verwenden zu können. Ansonsten hatte nur Anton Brenner (TüL/PDS) klare Vorstellungen, woher der Tübinger Eigenanteil kommen könnte: Er forderte weniger Investitionen für den Technologiepark Obere Viehweide, für teure Umfragen der Wirtschaftsförderungsgesellschaft und für Prestigeprojekte.
Ein Heimspiel hatte keiner der vier Kandidaten und drei Kandidatinnen, die ihre Fraktionen bei der von Eckhard Ströbel und Sepp Wais moderierten Veranstaltung zum Thema „Abschied vom Idyll?“ vertraten. Die Podiums-Redner durften zwar auf den Applaus ihrer Anhänger vertrauen, mussten aber auch mit Murren oder Gelächter der Konkurrenz rechnen. Ungebunden oder noch unentschieden schienen die wenigsten im Saal zu sein.
Am Eingang zur Halle prangte der Wander-Leuchtturm des Tübinger Social Forum, und im Vorraum hingen an Info-Wänden die Wahlprüfsteine der Agenda-Gruppen. Zu Beginn erhielten die Kandidaten Gelegenheit zu einer höchstens dreiminütigen „Kurzbewerbung in eigener Sache“. Tübingen müsse sich finanziell selbst aus der Patsche helfen, nannte der Fraktionsvorsitzende Ulrich Latus als Grund, CDU zu wählen. Inständig bat er, am nächsten Sonntag „ein völlig unberechenbares Konglomerat“ im Ratssaal zu verhindern. Weder die Verkehrs- noch die Energiewende seien bereits erreicht, führte Helga Vogel (AL/Grüne) an. Die SPD sei an allen wichtigen Entscheidungen beteiligt gewesen, habe gute Politik gemacht und Verantwortung übernommen, hob Erika Braungardt-Friedrichs hervor. Die UFW, sagte Ingrid Hornberger-Hiller, wolle die ortsansässige Wirtschaft, das Gewerbe und den Handel stärken. Dazu gehöre eine „bessere Parkraumbewirtschaftung“ auch für die Anwohner.
Seine Liste weise einen interessanten Kandidaten-Mix auf, betonte Hans-Peter Horn. Die Wähler hätten die Chance, den Ruf der WUT, eine Händlerpartei zu sein, zu verändern. Als Erfolg schrieb sich Horn zu, dass der Gemeinderat auf 48 Sitze verkleinert wurde und nach der übernächsten Wahl nur noch 40 Mitglieder zählen wird: „Man sieht, wie langwierig Entscheidungen oft sind und wie lang es oft dauert, bis Früchte zu ernten sind.“Anton Brenner (TüL/PDS) bemühte das Wahlprogramm der Heidelberger SPD, um seine Ablehnung von Zuschuss-Kürzungen für die Schulen deutlich zu machen: „Wir sagen in Tübingen das, was in anderen Städten vernünftige Stadträte von SPD, AL oder CDU sagen würden.“ Daran knüpfte Dietmar Schöning (FDP) an: „Sie haben Anton Brenner erlebt, wie er immer ist. Er sagt immer nur, was er nicht will.“ Tübingen habe zwar die Mittel für Schulen leicht gekürzt, aber gleichzeitig Millionen von Euro in sie investiert. Die FDP habe vor allem in Bereichen wie Kinderbetreuung, Schule und kulturelle Vielfalt Initiative ergriffen: „Eigenständiger Gestaltungswille ist das Stichwort.“
„Liberalismus und freiheitliche Grundorientierung gibt es nur in der FDP“, begründete Schöning seine Parteizugehörigkeit, als er beim „Kandidaten fragen Kandidaten“-Spiel Erika Braungardt-Friedrichs als Interviewerin zugelost bekam. Hans-Peter Horn wollte von Helga Vogel wissen, weshalb sie eine Anfrage zum Zustand der Neckarinsel an die Stadtverwaltung gerichtet habe. „Das ist kein Antrag gegen die Tü-Gast, sondern für ein sinnvolles Miteinander“ versicherte sie.
Als Schöning dank Los den Ball an Braungardt-Friedrichs zurückspielen konnte, einigte er sich mit ihr auf mehr Klarheit im Haushaltsplan. Brenner beschied Ulrich Latus, seine Liste sei gegenüber dem Technologiepark zunächst positiv eingestellt gewesen und erst hellhörig geworden, als „die Zahlen ins Kraut geschossen sind“. Und was das Weglassen angeht – da komme es „bei den ganzen Lobhudeleien vielleicht auch darauf an, dass eine Fraktion da ist, die die kritischen Punkte anmerkt.“
Hans-Peter Horn rechtfertigte die von der WUT geforderte Streichung des Zuschusses fürs Zimmertheater mit der wachsenden Schuldenlast. Ingrid Hornberger-Hiller versicherte Helga Vogel, sie könne sich sehr wohl eine Zusammenarbeit etwa bei der Förderung von Solaranlagen vorstellen. Dagegen mochte sich Latus nicht von Brenner für eine gemeinsame Oppositionspolitik einspannen lassen: „Als größte Fraktion hat man einen Bürgerauftrag.“
In der zweiten Themenrunde ging es darum, auf was Tübingen angesichts klammer Kassen verzichten kann. Anton Brenner verwies auf doppelte Führungsstrukturen, die im Rathaus bei der Verwaltungsreform etabliert würden, außerdem auf externe Berater und einen Bürgermeisterposten. Außerdem rieb er sich einmal mehr am Führungsstil der OB, der manches doppelt so teuer mache wie nötig. Helga Vogel sah in Kooperationen mit anderen Kommunen und modernen Managementmodellen im Kulturbereich und bei der Gebäudeverwaltung Einsparpotenziale. Ingrid Hornberger-Hiller stellte sich hinter die UFW-Forderung, bei den Kinderbetreuungseinrichtungen nach Sparmöglichkeiten zu suchen. Ansonsten wurden konkrete Vorschläge verweigert und eine Mischung aus Einnahmesteigerungen und kleinen und kleinsten Einsparungen als Lösung angeboten. Schöning brachte es auf den Punkt: „Wenn die Entwicklung der verfügbaren Mittel so weiter geht, sind wir alle mit unserem Latein am Ende.“ Er sah einen „wahnsinnig mühsamen Prozess“ mit kleinen Schritten voraus. „Anders geht es nicht.“ Die Publikumsfrage, wie seine WUT zu einer Regio-Stadtbahn stehe, bestand das Thema Geld weiterhin im Mittelpunkt. antwortete Hans-Peter Horn sehr bündig: „Die wird in den nächsten fünf Jahren nicht kommen, deshalb brauchen wir uns auch nicht damit auseinander zu setzen.“ Erika Braungardt-Friedrichs bekannte sich für die SPD dazu, auch ein weiteres Mal an der Grundsteuerschraube zu drehen – als letztes Mittel und „bevor wir das Zimmertheater schließen oder soziale Einrichtungen unerschwinglich werden“. Protestrufe erntete Ulrich Latus mit seiner Erkenntnis, es gebe „so gut wie keinen Innenstadtverkehr“, die mangelnde Erreichbarkeit der Altstadt sei ihr größter Wettbewerbsnachteil. Scharf wandte sich Dietmar Schöning gegen die in einer Frage enthaltene Unterstellung, die Stadt subventioniere Kinderbetreuungseinrichtungen, damit beide Elternteile in Ruhe ihren Verdienstmöglichkeiten nachgingen. „Beim knappen Angebot in Tübingen können Plätze eh nur nach sozialer Bedürftigkeit vergeben werden, Doppelverdiener bekommen überhaupt keinen Platz.“
Durchaus unterschiedlich fielen zum Abschluss die Visionen der Kandidaten für das Ende der Amtsperiode im Jahr 2009 aus. Während Brenner sich eine Stadt „ohne Leuchtturmdenken“ wünscht, hofft Latus, dass Tübingen der Abschied vom Idyll erspart bleibt. Helga Vogel brannte ein ganzes Feuerwerk an Visionen von einer Warteliste für den Technologiepark über eine Stadtbahn bis zur Zeitungsschlagzeile von Tübingen als Landes-Umwelthauptstadt ab. Hornberger-Hiller hatte als größten Wunsch eine Innenstadt, die so bunt strukturiert ist wie heute, aber ein paar leer stehende Läden weniger beherbergt.
Horn wünschte sich, dass die Weichen auf 100 000 Einwohner gestellt sein werden, darunter viele Kinder und eigenverantwortliche Bürger. Einen weiblicheren und jüngeren Gemeinderat erhofft sich Braungardt-Friedrichs, die Einigung auf ein Afro-Brasil-Festival jährlich auf dem Marktplatz und ein boomendes Kornhaus. An der Spitzenstellung der Uni würde sich Dietmar Schöning in fünf Jahren gerne laben, kombiniert mit Arbeitgebern, die ihre Verantwortung für Kinderbetreuung erkannt haben.