Donnerstag, 18. November 2004
Brief an das Regierungspräsidium wegen Verstößen der Stadtverwaltung in der Gemeinderatssitzung
An das Regierungspräsidium Tübingen
Herrn Regierungspräsident Hubert Wicker

Wahrnehmung der Rechtsaufsicht
wegen grober Verstöße der Stadtverwaltung in der Gemeinderatssitzung vom 15. 11. 2004

Sehr geehrter Herr Regierungspräsident,

wir bitten Sie, folgende Vorfälle zu untersuchen und die Oberbürgermeisterin der Stadt Tübingen, Frau Russ-Scherer, über die Unrechtmäßigkeiten zu belehren.

1. Die Oberbürgermeisterin hat über unseren Antrag zum Tagesordnungspunkt 20 „Bürgschaftsübernahme zu Gunsten der „Pro gemeinsam bauen und leben Wohngenossenschaft eG“ nicht abstimmen lassen, mit der Begründung, es handle sich dabei nur um eine Negation der Verwaltungsvorlage 278a/2004. Tatsächlich fußt unser Antrag 278b/2004 auf dem ursprünglichen Verwaltungsantrag 278/2004 vom 28.09.2004. Wir wollten ausdrücklich in der neuen Verwaltungsvorlage 278a/2004 vom 08.11.2004 die Position der alten Verwaltungsvorlage als Entscheidungsvariante mit aufgenommen haben. Die von der Verwaltung vorgelegt Varianten waren einseitig und legten nur eine Entscheidungsmöglichkeit nahe.
Anlagen: 278 / 2004 http://www.tuebingen.de/ratsdokumente/1568_10680.html
278a / 2004 http://www.tuebingen.de/ratsdokumente/1568_10680.html
278b / 2004 http://www.tuebingen.de/ratsdokumente/1568_10680.html

2. Der völlige Sinneswandel in der Verwaltungsvorlage 278a / 2004 gegenüber der Vorlage 278 / 2004 kam auch zustande, um ein zurückliegendes falsches Verwaltungshandeln zu vertuschen. Die Stadt tätigte ohne Gemeinderatsbeschluss Aushubarbeiten für das Projekt „Solidarité“ der „Pro gemeinsam bauen und leben Wohngenossenschaft eG“ in Höhe von 20.762,06 €. Dies geschah entweder in der Meinung, dass es keine Probleme mit der Finanzierung und der Beschlussfassung geben werde, oder um Fakten zu schaffen und eine alternative Beschlussfassung auszuhebeln. In der Vorlage 194 / 2004 vom 01.07.2004 heißt es nach einer kuriosen Begründung: „Der Betrag wird über den Kaufvertrag für das Grundstück wieder vereinnahmt.“ Auf den Zusammenhang der plötzlich befürworteten Bürgschaft in Höhe von 426 000 € mit den sonst verfallenden illegalen Vorleistungen in Höhe von 20.762,06 € wurde weder in der Vorlage 278/2004 noch in der Vorlage 278a/2004 noch mündlich hingewiesen. Der Gemeinderat wurde wissentlich getäuscht.
Anlage: 194 / 2004 http://www.tuebingen.de/ratsdokumente/2004_194.pdf

3. Der Beschluss des Gemeinderats über die Bürgschaft wurde nach 22.30 Uhr gefasst, obwohl vereinbart ist, dass Gemeinderatssitzungen längstens bis 22.30 Uhr gehen. Um den Beschluss noch durchzupeitschen, wurde die Beratung anderer Tagesordnungspunkte massiv behindert.
Frau Stadträtin Strasdeit durfte die Position der TÜL/PDS-Fraktion zur Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 13 „Kommunalisierung der Landeszuschüsse für Kindertagesstätten“ nicht vortragen. Die Oberbürgermeisterin begründete dies damit, Stadträtin Strasdeit habe schon gesprochen, da sie ihren Änderungsantrag vorstellte. Es muss jedoch das Recht geben, vor der Abstimmung wie die anderen Fraktionen zu den weiteren Anträgen zu sprechen und das Abstimmungsverhalten zu begründen.
Der Tagesordnungspunkt 17 „Bebauungsplanänderung Schelmen, Weilheim; Behandlung der Anregungen, Satzungsbeschluss“ wurde gestrichen, obwohl die Abstimmung darüber Voraussetzung für den folgenden Tagesordnungspunkt 18 „Bildung eines Vermittlungsausschusses in der Angelegenheit Bebauungsplanänderung Schelmen Weilheim“ war. Man kann keinen Vermittlungsausschuss des neuen Gemeinderats zu einem Punkt bilden, zu dem der neue Gemeinderat überhaupt keine abweichende Position gegenüber dem Ortschaftsrat Weilheim bezogen hat. Die Abstimmung über den abgesetzten Tagesordnungspunkt 17 hätte ja im neu zusammengesetzten Gemeinderat so ausgehen können, dass überhaupt kein Vermittlungsausschuss nötig geworden wäre.

4. Wir beantragen, der Stadt keine Sondergenehmigung für die Gewährung einer Bürgschaft für die „Pro gemeinsam bauen und leben Wohngenossenschaft eG“ zu geben. Keine Aufgabe der Stadt wird durch die Bürgschaft wirkungsvoller und wirtschaftlicher erfüllt. Im Gegenteil. Der Schlendrian der Stadt, ohne Beschluss des Stadtrats für 20.762,06 € schon Vorleistungen für ein Projekt zu erbringen, würde belohnt. Bei einem projektierten Mietpreis von 7 Euro kann nicht die Rede davon sein, dass eine soziale Aufgabe der Stadt wirkungsvoller oder wirtschaftlicher erfüllt würde. Außerdem hält sich das Risiko nicht in tragbaren Grenzen. Die Angaben der „Pro gemeinsam bauen und leben Wohngenossenschaft eG“ sind unvollständig und widersprüchlich, wie dies der UFW/WUT-Fraktionsvorsitzende und ehemalige Volksbank-Direktor Kurt Friesch in der Sitzung vom 15.11.2004 ausgeführt hat (siehe Protokoll). Von einer dauernden Leistungsfähigkeit der „Genossenschaft“kann auch nicht gesprochen werden. Sie ist im Gegenteil von weiteren Gefälligkeits-Bürgschaften abhängig und hat keinerlei Reserven, um einer Insolvenz bei geringsten Schwierigkeiten zu entgehen.

Dass die Verwaltungsspitze der Stadt Tübingen demokratische Spielregeln grob missachtet und bricht, um einen ihr genehmen Beschluss herbeizuführen bzw. von den eigenen Leichen im Keller abzulenken, erinnert an vor- und undemokratische Zustände, wie sie im Tübinger Rathaus auch schon geherrscht haben.
Das ist nicht hinzunehmen.

Mit freundlichen Grüßen

Anton Brenner
(für die Fraktion der Tübinger Linken / PDS)