Mittwoch, 8. Dezember 2004
Oberbürgermeisterin Brigitte Russ-Scherer will Ein-Euro-Jobs - eine "sozialpolitische Sauerei"
abrenner, 19:57h
Zu unserem Antrag zum Tagesordnungspunkte 10 (Hartz IV) und 11 im Tübinger Kreistag: Hartz IV und die Ein-Euro-Jobs
Der Mensch ist ein sündiges Wesen und wo Missbrauch möglich ist, wird er auch praktiziert. Bedingungen für die Ein-Euro-Jobs sind: Gemeinnützigkeit, Zusätzlichkeit, Wiedereingliederung der Arbeitssuchenden. Keinesfalls sollen Tätigkeiten gefördert werden, die in regulärer Arbeit erledigt werden können. Was aber ins Haus steht, bezeichnet der Berliner Politikprofessor Peter Grottian als „sozialpolitische Sauerei“. 500 Euro erhielten die Verbände für jede Person, die eingestellt werde, wovon nur rund 180 Euro als tatsächlicher Lohn die Betroffenen erreichen würden. „Dass die Institutionen mehr bekommen als der Mensch, ist pervers“, sagt Grottian. Kein Wunder, dass sich Städte und Wohlfahrtsverbände überschlagen, die 320 Euro pro Fall abzugreifen, - als neue Finanzspritze in Zeiten knapper Kassen und um bei den Stadtbaubetrieben, im Pflege- und Sozialbereich versicherungspflichtige Arbeit zu ersetzen.
Das haben auch die führenden Konjunkturinstitute in ihrem Herbstgutachten festgestellt. Nie neue Zürcher Zeitung schreibt am 20.10.2004: „Die Ökonomen verfolgen vor allem die von der Regierung gefeierte Schaffung von fast 500 000 sogenannten Minijobs mit Argwohn. Diese durch tiefere Abgaben subventionierten geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse hätten keine Entsprechung in einem Abbau der Arbeitslosenzahlen gefunden, da sie zu erheblichen Mitnahme- und Verdrängungseffekten führten. Eine Subventionierung der Nebenbeschäftigungen ... sowie die Verdrängung regulärer Arbeitsplätze sei aber gewiss nicht sinnvoll. Die neuen 1-Euro-Jobs bergen dasselbe Risiko.“
Wenn sich die Wohlfahrtsverbände tatsächlich an ihre Selbstverpflichtung der „Zusätzlichkeit, Gemeinnützigkeit und Freiwilligkeit“ bei Ein-Euro-Jobs halten sollten, nur „sinnstiftende Tätigkeiten“ und den Teilnehmern „Qualifizierungsangebote, Schulungen und Kurse“ anbieten und „keine Arbeitsplätze wegen der Jobs abbauen“ (taz vom 27.10.2004), werden sie schnell merken, dass ihre Kosten über dem Erstattungsbetrag von 500 Euro liegen, und jedes Interesse an den Ein-Euro-Jobs verlieren.
______________________________________________
Zur Information noch ein Artikel aus der FAZ-Sonntagszeitung zum Thema Ein-Euro-Jobs:
"Deutschland ruckt im Ein-Euro-Takt
Billigjobber vertiefen die Misere am Arbeitsmarkt. Denn sie verdrängen reguläre Stellen
Durch Deutschland geht ein Ruck. Langzeitarbeitslose fegen Parks, reinigen Spielplätze, schneiden Hecken oder zählen Vögel im Wattenmeer. Sie reparieren Fahrräder und lesen alten Menschen aus der Zeitung vor. Sie helfen bei der Sanierung abgebrannter Bibliotheken, bauen Historienparks auf, ersetzen Zivildienstleistende oder führen Touristen über die Straße. Sie bewachen Kindergärten, leiten Sportübungen, bringen Ausländerkindern Deutsch bei oder bauen Wochenmärkte auf und ab.
46200 solcher Stellen oder ein Prozent aller arbeitslos Gemeldeten wurden im Oktober von der Bundesagentur für Arbeit vermittelt. Wohlfahrtsverbände, Kirchen und Kommunen überschlagen sich seit Wochen mit Erfolgsmeldungen, wie viele solcher Arbeitsgelegenheiten sie schaffen wollen. Auf mindestens 600000 oder 14 Prozent aller Arbeitslosen schätzt Bundesarbeitsminister Wolfgang Clement das Potential. Der Aufschwung am Arbeitsmarkt ist da.
Noch freiwillig und vom ersten Januar an fest verpflichtet werden arbeitsfähige Langzeitarbeitslose, in "Ein-Euro-Jobs" gemeinnützig zu arbeiten - befristet auf sechs bis neun Monate. Aber danach wird sich schon ein neuer Ein-Euro-Job finden lassen. Denn attraktiv ist das Angebot ja für alle. Der Arbeitslosengeld-II-Empfänger kassiert die Aufwandsentschädigung von einem oder zwei Euro je Stunde ohne Abschlag von seinem "Alg II". Die Wohlfahrtsverbände und die Kommunen jubilieren, weil sie billige Arbeitskräfte nutzen können. Der Wohlfahrtsstaat schien schon am Ende. Aber jetzt kann man dem Bürger zeigen: Wir können uns doch noch saubere Parks leisten. Wir haben ja Arbeitslose. Lästige Ausschreibungen nach dem Vergaberecht entfallen. Ganz einfach bei der Bundesagentur für Arbeit einen Ein-Euro-Jobber bestellen. Sozialabgaben werden nicht fällig.
Obendrein legt die Bundesagentur den Wohlfahrtsverbänden noch was drauf: bis zu 320 Euro im Monat für die Entlohnung eines Ein-Euro-Jobbers und bis zu 180 Euro für "begleitende Maßnahmen". Auch die Regierung freut sich: Arbeiten Ein-Euro-Jobber mehr als 15 Stunden je Woche, fallen sie aus der Statistik heraus. Bei 600000 sinkt die Arbeitslosenquote um 1,5 Prozentpunkte. Das kann die Wahl 2006 entscheiden.
Die überall aufkommende Glückseligkeit ist leider verfehlt. Die Ein-Euro-Jobs führen den Arbeitsmarkt noch tiefer in die Misere. Sie sind eine Plage, die kaum noch abzuschaffen sein wird - und die reguläre Arbeitsplätze vernichtet. Dafür sorgt eine Vielzahl von Fehlsteuerungen. Nichts ist kostenlos. Die Zuschüsse für die Wohlfahrtsverbände und den Verwaltungsaufwand zahlt nicht die Bundesagentur, sondern der arbeitende Beitragszahler in die Arbeitslosenversicherung. So wird man die Lohnzusatzkosten nie senken. Das kostet Arbeitsplätze.
Ein-Euro-Jobs verdrängen direkt andere Beschäftigte. Warum sollten Kommunen noch Gärtnereien beauftragen, den Stadtpark zu pflegen, wenn Ein-Euro-Jobber billiger zu haben sind? So werden der deutsche Mittelstand leiden und das deutsche Handwerk. Das erhöht die Zahl der Konkurse und der Arbeitslosen - und es kostet Hans Eichel Steuereinnahmen, die er sich an anderer Stelle wieder holen wird. Kommissionen sollen solche Verdrängungseffekte prüfen und verhindern. Wie schön. Jede Arbeitsgelegenheit kann am Markt angeboten werden. Jeder staatlich subventionierte Ein-Euro-Jobber besetzt einen potentiellen regulären Arbeitsplatz - und bedeutet vielleicht das Aus für eine real existierende Ich-AG. So vernichtet die Politik Marktchancen für Unternehmen.
Ein-Euro-Jobs halten Arbeitslose von der Aufnahme normaler, sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung ab, wie das Institut für Wirtschaftsforschung in Halle gezeigt hat. Empfänger von Arbeitslosengeld II dürfen ein wenig dazuverdienen, als Ein-Euro-Jobber oder in einer regulären Beschäftigung. Das soll die Arbeitslosen an den Arbeitsmarkt heranführen. Tatsächlich aber wird der Anreiz gestärkt, Ein-Euro-Jobs statt normaler Tätigkeiten im Niedriglohnbereich anzunehmen. Der Ein-Euro-Jobber darf Aufwandsentschädigung und "Alg II" voll behalten, dem regulär Arbeitenden wird das "Alg II" je nach Verdienst gekürzt. So lohnt es sich für Arbeitslose nicht mehr, nach einer richtigen Arbeit Ausschau zu halten. Der Ein-Euro-Job ist günstiger.
Hier schließt sich der Teufelskreis. Arbeitslose ziehen Ein-Euro-Jobs regulären, aber gering bezahlten Stellen vor. Wohlfahrtsverbände und Kommunen werden nie mehr davon lassen wollen, weil sie nahezu kostenlos ihre Tätigkeiten und ihre Wichtigkeit ausdehnen können. Der Staatseinfluss auf die Wirtschaft wächst, die Bundesagentur wird zum größten "Leiharbeitgeber" der Republik - und der steuerzahlende Bürger fragt sich: Wann endlich erhalten Arbeitslose das Recht, sich unter Tarif in den Arbeitsmarkt hineinzukonkurrieren? Dann könnten wir uns die Ein-Euro-Ruckelei ersparen."
Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 07.11.2004, Nr. 45 / Seite 36
Der Mensch ist ein sündiges Wesen und wo Missbrauch möglich ist, wird er auch praktiziert. Bedingungen für die Ein-Euro-Jobs sind: Gemeinnützigkeit, Zusätzlichkeit, Wiedereingliederung der Arbeitssuchenden. Keinesfalls sollen Tätigkeiten gefördert werden, die in regulärer Arbeit erledigt werden können. Was aber ins Haus steht, bezeichnet der Berliner Politikprofessor Peter Grottian als „sozialpolitische Sauerei“. 500 Euro erhielten die Verbände für jede Person, die eingestellt werde, wovon nur rund 180 Euro als tatsächlicher Lohn die Betroffenen erreichen würden. „Dass die Institutionen mehr bekommen als der Mensch, ist pervers“, sagt Grottian. Kein Wunder, dass sich Städte und Wohlfahrtsverbände überschlagen, die 320 Euro pro Fall abzugreifen, - als neue Finanzspritze in Zeiten knapper Kassen und um bei den Stadtbaubetrieben, im Pflege- und Sozialbereich versicherungspflichtige Arbeit zu ersetzen.
Das haben auch die führenden Konjunkturinstitute in ihrem Herbstgutachten festgestellt. Nie neue Zürcher Zeitung schreibt am 20.10.2004: „Die Ökonomen verfolgen vor allem die von der Regierung gefeierte Schaffung von fast 500 000 sogenannten Minijobs mit Argwohn. Diese durch tiefere Abgaben subventionierten geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse hätten keine Entsprechung in einem Abbau der Arbeitslosenzahlen gefunden, da sie zu erheblichen Mitnahme- und Verdrängungseffekten führten. Eine Subventionierung der Nebenbeschäftigungen ... sowie die Verdrängung regulärer Arbeitsplätze sei aber gewiss nicht sinnvoll. Die neuen 1-Euro-Jobs bergen dasselbe Risiko.“
Wenn sich die Wohlfahrtsverbände tatsächlich an ihre Selbstverpflichtung der „Zusätzlichkeit, Gemeinnützigkeit und Freiwilligkeit“ bei Ein-Euro-Jobs halten sollten, nur „sinnstiftende Tätigkeiten“ und den Teilnehmern „Qualifizierungsangebote, Schulungen und Kurse“ anbieten und „keine Arbeitsplätze wegen der Jobs abbauen“ (taz vom 27.10.2004), werden sie schnell merken, dass ihre Kosten über dem Erstattungsbetrag von 500 Euro liegen, und jedes Interesse an den Ein-Euro-Jobs verlieren.
______________________________________________
Zur Information noch ein Artikel aus der FAZ-Sonntagszeitung zum Thema Ein-Euro-Jobs:
"Deutschland ruckt im Ein-Euro-Takt
Billigjobber vertiefen die Misere am Arbeitsmarkt. Denn sie verdrängen reguläre Stellen
Durch Deutschland geht ein Ruck. Langzeitarbeitslose fegen Parks, reinigen Spielplätze, schneiden Hecken oder zählen Vögel im Wattenmeer. Sie reparieren Fahrräder und lesen alten Menschen aus der Zeitung vor. Sie helfen bei der Sanierung abgebrannter Bibliotheken, bauen Historienparks auf, ersetzen Zivildienstleistende oder führen Touristen über die Straße. Sie bewachen Kindergärten, leiten Sportübungen, bringen Ausländerkindern Deutsch bei oder bauen Wochenmärkte auf und ab.
46200 solcher Stellen oder ein Prozent aller arbeitslos Gemeldeten wurden im Oktober von der Bundesagentur für Arbeit vermittelt. Wohlfahrtsverbände, Kirchen und Kommunen überschlagen sich seit Wochen mit Erfolgsmeldungen, wie viele solcher Arbeitsgelegenheiten sie schaffen wollen. Auf mindestens 600000 oder 14 Prozent aller Arbeitslosen schätzt Bundesarbeitsminister Wolfgang Clement das Potential. Der Aufschwung am Arbeitsmarkt ist da.
Noch freiwillig und vom ersten Januar an fest verpflichtet werden arbeitsfähige Langzeitarbeitslose, in "Ein-Euro-Jobs" gemeinnützig zu arbeiten - befristet auf sechs bis neun Monate. Aber danach wird sich schon ein neuer Ein-Euro-Job finden lassen. Denn attraktiv ist das Angebot ja für alle. Der Arbeitslosengeld-II-Empfänger kassiert die Aufwandsentschädigung von einem oder zwei Euro je Stunde ohne Abschlag von seinem "Alg II". Die Wohlfahrtsverbände und die Kommunen jubilieren, weil sie billige Arbeitskräfte nutzen können. Der Wohlfahrtsstaat schien schon am Ende. Aber jetzt kann man dem Bürger zeigen: Wir können uns doch noch saubere Parks leisten. Wir haben ja Arbeitslose. Lästige Ausschreibungen nach dem Vergaberecht entfallen. Ganz einfach bei der Bundesagentur für Arbeit einen Ein-Euro-Jobber bestellen. Sozialabgaben werden nicht fällig.
Obendrein legt die Bundesagentur den Wohlfahrtsverbänden noch was drauf: bis zu 320 Euro im Monat für die Entlohnung eines Ein-Euro-Jobbers und bis zu 180 Euro für "begleitende Maßnahmen". Auch die Regierung freut sich: Arbeiten Ein-Euro-Jobber mehr als 15 Stunden je Woche, fallen sie aus der Statistik heraus. Bei 600000 sinkt die Arbeitslosenquote um 1,5 Prozentpunkte. Das kann die Wahl 2006 entscheiden.
Die überall aufkommende Glückseligkeit ist leider verfehlt. Die Ein-Euro-Jobs führen den Arbeitsmarkt noch tiefer in die Misere. Sie sind eine Plage, die kaum noch abzuschaffen sein wird - und die reguläre Arbeitsplätze vernichtet. Dafür sorgt eine Vielzahl von Fehlsteuerungen. Nichts ist kostenlos. Die Zuschüsse für die Wohlfahrtsverbände und den Verwaltungsaufwand zahlt nicht die Bundesagentur, sondern der arbeitende Beitragszahler in die Arbeitslosenversicherung. So wird man die Lohnzusatzkosten nie senken. Das kostet Arbeitsplätze.
Ein-Euro-Jobs verdrängen direkt andere Beschäftigte. Warum sollten Kommunen noch Gärtnereien beauftragen, den Stadtpark zu pflegen, wenn Ein-Euro-Jobber billiger zu haben sind? So werden der deutsche Mittelstand leiden und das deutsche Handwerk. Das erhöht die Zahl der Konkurse und der Arbeitslosen - und es kostet Hans Eichel Steuereinnahmen, die er sich an anderer Stelle wieder holen wird. Kommissionen sollen solche Verdrängungseffekte prüfen und verhindern. Wie schön. Jede Arbeitsgelegenheit kann am Markt angeboten werden. Jeder staatlich subventionierte Ein-Euro-Jobber besetzt einen potentiellen regulären Arbeitsplatz - und bedeutet vielleicht das Aus für eine real existierende Ich-AG. So vernichtet die Politik Marktchancen für Unternehmen.
Ein-Euro-Jobs halten Arbeitslose von der Aufnahme normaler, sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung ab, wie das Institut für Wirtschaftsforschung in Halle gezeigt hat. Empfänger von Arbeitslosengeld II dürfen ein wenig dazuverdienen, als Ein-Euro-Jobber oder in einer regulären Beschäftigung. Das soll die Arbeitslosen an den Arbeitsmarkt heranführen. Tatsächlich aber wird der Anreiz gestärkt, Ein-Euro-Jobs statt normaler Tätigkeiten im Niedriglohnbereich anzunehmen. Der Ein-Euro-Jobber darf Aufwandsentschädigung und "Alg II" voll behalten, dem regulär Arbeitenden wird das "Alg II" je nach Verdienst gekürzt. So lohnt es sich für Arbeitslose nicht mehr, nach einer richtigen Arbeit Ausschau zu halten. Der Ein-Euro-Job ist günstiger.
Hier schließt sich der Teufelskreis. Arbeitslose ziehen Ein-Euro-Jobs regulären, aber gering bezahlten Stellen vor. Wohlfahrtsverbände und Kommunen werden nie mehr davon lassen wollen, weil sie nahezu kostenlos ihre Tätigkeiten und ihre Wichtigkeit ausdehnen können. Der Staatseinfluss auf die Wirtschaft wächst, die Bundesagentur wird zum größten "Leiharbeitgeber" der Republik - und der steuerzahlende Bürger fragt sich: Wann endlich erhalten Arbeitslose das Recht, sich unter Tarif in den Arbeitsmarkt hineinzukonkurrieren? Dann könnten wir uns die Ein-Euro-Ruckelei ersparen."
Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 07.11.2004, Nr. 45 / Seite 36