Dienstag, 6. Januar 2004
Mittwochsspalte: Falsche Gangart
Schwäbisches Tagblatt, Mi 31.12.2003

Gerlinde Strasdeit (Stadträtin der Tübinger Linken/PDS)

Osiander schließt die Filiale in Stuttgart. Grund: der "defizitäre Standort" sei nicht zu halten. Wenn es im eigenen Laden schief läuft, zieht der Unternehmer Riethmüller die Notbremse. In die defizitäre Biotech-Ruine auf der Viehweide bewilligt der Stadtrat Riethmüller weiter kommunale Gelder - als Verfechter eines Projekts, das leersteht, die Stadt arm macht und keine Arbeitsplätze bringt. Ich verstehe nicht, was Gewerbetreibenden an der Riethmüllerschen Politik noch gefällt: bei höherer Grundsteuer stimmt er zu; bei echten Tübinger Standortfaktoren schwingt er mit WUT die Abrissbirne: siehe Zimmertheater, siehe Kinderbetreuung. Wer bei Kultur rücksichtslos kürzt, schadet nicht nur den direkt Betroffenen. Tübingen verliert an Anziehungskraft. Schon jetzt ist es für Familien mit Kindern hier teurer als woanders: bei Gebühren, bei Fahrpreisen, bei Mieten. Mit der Stellenausstattung in Kindergärten liegt die Unistadt am unteren Rand. Nachmittagsgruppen werden gestutzt, Schulleiter mit Haushaltssperrungen schikaniert.

Es ist nicht das erste Mal, dass ein Tübinger Haushalt erst im neuen Jahr verabschiedet wird. Früher war das normal. Schlimmer ist, dass problematische Bereiche bei der Konsolidierung ausgeblendet wurden: Großsporthalle, hohe Kreisumlage fürs neue teure Landratsamt, Führungsunterstützung, automatische Parkhäuser, nutzlose Wirtschaftsförderung. Die TüL/PDS machte im Gemeinderat Einsparvorschläge in Höhe von 7,2 Millionen Euro - ohne einen Cent zu kürzen bei Kindern, sozialen und kulturellen Einrichtungen. Die Oberbürgermeisterin blockte alle Alternativen ab. Sie beharrt auf altmodischer Subventionspolitik. Ihr Weihnachtsgruß an die "lieben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter" war eine Zumutung: Zulagenstreichung bei Arbeitern, Verzicht unten, teures Zusatz-Management oben. Amtsleiter und Beschäftigte werden per Drohung mit weiteren Stellenkürzungen auf einen Haushalt eingeschworen, den der Gemeinderat gerade mehrheitlich verwarf. In den Nachbarstädten fiel die amtliche Weihnachtsbotschaft humaner aus. Die Amtskollegin in Reutlingen speiste an Heiligabend mit Obdachlosen. Der Rottenburger OB besuchte Schwerkranke und Beschäftigte im Krankenhaus.

Zum Jahreswechsel gibt es harte Einschnitte bei Gesundheitsleistungen, Ausweitung des Niedriglohnsektors, noch mehr Bundeswehr in aller Welt und europäische Militäraufrüstung. Das sind keine guten Perspektiven. Der SPD-Kreisvorsitzende Rosemann begleitete den Sozialabbau in Stadt und Bund mit der stilvollen Empfehlung: "fürs Vaterland die Arschbacken zusammenkneifen". Wir halten nichts von dieser unangenehmen Fortbewegungsart und raten stattdessen für das Jahr 2004 nach guter sozialdemokratischer Tradition zum aufrechten Gang, "Seit' an Seit'" mit sozialen Bewegungen und Gewerkschaften.