Mittwoch, 21. Januar 2004
Weil es irgendwie weiter gehen muss
Schwäbisches Tagblatt, Mi 21. Januar 2004

Wohl noch nie gab es im Tübinger Rat so wenig Pro und so viel Contra zum Etat-Beschluss

TÜBINGEN. Ein guter Kompromiss, so heißt es, zeichnet sich dadurch aus, dass er den Streitparteien gleichermaßen wehtut. Andererseits gehört aber auch dazu, und das galt bisher für alle Tübinger Etat-Beschlüsse, dass sich die Beteiligten dafür rühmen dürfen, dem ausgehandelten Ergebnis in wesentlichen Punkten den eigenen Stempel aufgedrückt zu haben. Insofern erlebten die wenigen Gäste, die am Montag zum Etat-Finale ins Tübinger Rathaus gekommen waren, ein Novum: Die meisten Stadträte waren zwar froh, dass überhaupt ein Haushalt zustande kam, aber keiner zeigte sich mit dem neuen Zahlenwerk auch nur halbwegs zufrieden.

Einer der zentralen "Knackpunkte", die in der Etat-Runde 2004 die Bildung einer breiteren Haushalts-Mehrheit verhindert haben: Zum Verdruss von CDU, UFW, FL und TÜL/PDS soll das ehemalige Firmenareal von Wurster & Dietz in Derendingen mit zwei Millionen Euro aus der Stadtkasse entwickelt werden. Archivbild: Grohe

Der allgemeine Frust lässt sich leicht erklären: Geben ist seeliger denn nehmen, doch angesichts drastischer Steuerausfälle und eines strukturellen Haushaltsdefizits von über vier Millionen Euro musste der Rat diesmal mehr nehmen, als er geben konnte. Das Knausern machte den Fraktionen, wie vielfach zu hören war, "keinen Spaß mehr". Schon gar nicht im Vorfeld eines Wahlkampfes, in dem man vor den geschröpften Bürger treten muss. Um allzu deftigen Wähler-Watschen vorzubeugen, war es denn auch allen Gruppierungen, egal ob Ja- oder Neinsager, wichtig, sich mehr oder minder weit vom Etat 2004 zu distanzieren. Die meistgehörte Formel des Abends: "Das ist nicht unser Haushalt".

Am meisten Grund zu dieser Feststellung hatte die TÜL/PDS-Fraktion. Sie hätte gern in alter Manier das Füllhorn über die Sozialschwachen ausgeschüttet und das dafür nötige Geld bei den angeblichen "Prestigeprojekten der Oberbürgermeisterin" (Technologiepark, Wirtschaftsförderung, Sporthalle) abgezogen. Dass sich die Etat-Koalitionäre stattdessen auf weitere Zuschuss-Kürzungen verständigten, fand Gerlinde Strasdeit "das Allerletzte", weswegen es für das TÜL/PDS-Trio nur konsequent war, den Haushalt empört abzulehnen.

Von der CDU war nichts anderes zu erwarten. Deren Doppelspitze Ulrich Latus und Dieter Pantel hatte schon vor Monaten klargestellt, dass sie bei einer Erhöhung der Grundsteuer nicht mitspielen würden. Ersatzweise wollte die größte Ratsfraktion die Löcher mit weitergehenden Einsparungen (zumal im Kulturbereich) und mit umfangreichen Verkäufen aus dem städtischen Grundbesitz stopfen.
Zudem forderte die CDU die zwei Millionen Euro, die der Wirtschaftsförderungs-GmbH (WIT) zur Belebung von Gewerbebrachen überwiesen wurden, für die Stadtkasse zurück. Nicht zuletzt, weil sie auch diesmal den heftig kritisierten "Einstieg in spekulative Grundstücksgeschäfte" nicht stoppen konnten, fanden die Christdemokraten den Etat-Kompromiss rundum "enttäuschend".

Überraschend machte erstmals auch die Freie Liste die WIT-Millionen zu ihrem "Knackpunkt". Einst eine entschiedene Befürworterin dieser Art der Stadtentwicklung, hält es die FL inzwischen für "utopisch", dass damit etwas zu erreichen sei. Sie hätte die zwei Millionen gern abgegriffen, um die Kürzungen im Sozialbereich zu vermeiden, und aus gleichem Grund auch die Grundsteuer nicht nur um zehn, sondern um zwanzig Prozent erhöht. Weil sie beides nicht bekam, zog sich die FL verärgert zurück. "Das Fass zum Überlaufen" brachte laut Joachim Gellert letztlich aber ein eher symbolischer Betrag: "Wenn überall gestrichen wird, kann man nicht mit 15000 Euro ein neues Projekt, den Theatersommer, hochziehen."

Die UFW stand die ganze Etat-Runde über ziemlich eng an der Seite der CDU, mit der sie konsequent gegen die Grundsteuer-Erhöhung und für die Heimholung des WIT-Kapitals stritt. Am Ende fand Fraktionschef Kurt Friesch kaum einen vernünftigen Grund, das ungeliebte Kompromiss-Paket per Stimmenthaltung passieren zu lassen - außer diesem: "Wenn wir den Etat blockieren, schaden wir den Handwerkern, die auf die Aufträge der Stadt angewiesen sind."
Ähnlich argumentierte WUT-Chef Hermann-Arndt Riethmüller, der in manchen Punkten mit CDU und UFW einig war und überdies noch wesentlich größere Einsparungen (vor allem bei der Kinderbetreuung) gefordert hatte. Da er als Verfechter einer aktiven Grundstückspolitik ("Die WIT-Millionen sind eine dringend nötige Investition in die Zukunft") jedoch keine Chance sah, mit CDU und UFW eine eigene Mehrheit zu bekommen, hielt er mit vier seiner Fraktionskollegen bei der Abstimmung still.

Die restlichen drei Fraktionen, die es mit OB Brigitte Russ-Scherer schließlich auf 21 Ja-Stimmen brachten, einte vor allem die Ablehnung der "Knackpunkte" der Mehrheit, die selber nicht zusammenfand. Weitere Kürzungen bei den laufenden Ausgaben kamen für Helga Vogel von der AL nicht in Frage, weil die Verwaltung kaum noch mehr als die von ihr angebotene "globale Minderausgabe" (1,4 Millionen Euro) einsparen könne.

Ebenso entschlossen wies FDP-Rat Dietmar Schöning den verstärkten Einsatz von städtischem Grundvermögen als unverantwortlichen Ausverkauf zurück. Dann schon lieber eine maßvolle Erhöhung der Grundsteuer. Um der Stadt "viele Grausamkeiten im sozialen Bereich" zu ersparen, hätte die SPD laut Erika Braungardt-Friedrichs die Grundsteuer gern noch höher geschraubt. Weil dazu aber außer der FL niemand bereit war, bissen die Sozis nolens-volens in den sauren Kompromiss-Apfel.

Fazit: Keine Fraktion bekam einen Etat, mit dem sie im Wahlkampf groß hausieren gehen wird. Wer ihn beschloss oder zumindest nicht blockierte, entschied sich für das rundum als ziemlich groß empfundene kleinere Übel. Auch die Oberbürgermeisterin: "Es ist nicht der Haushalt der Verwaltung. Wir müssen viel schlucken, aber wir nehmen das hin, weil es doch irgendwie in Tübingen weiter gehen muss." Sepp Wais

Wie teuer wird die Grundsteuer?

Die beschlossene Grundsteuer-Erhöhung bringt der Stadt jährliche Mehreinnahmen von etwa einer Million Euro. Wer wissen will, wie viel er dafür berappen muss, kann sich das leicht ausrechnen: 9,75 Prozent mehr als letztes Jahr. Bei den meisten (in aller Regel unterbewerteten) Altbau-Wohnungen macht der Aufschlag höchstens 15 Euro aus. Bei neueren Wohnungen reicht das Plus - je nach Größe - von 10 und 80 Euro, bei den nobelsten Einfamilienhäusern bis zu 300 Euro. Härter trifft es einige Betriebe, die mitunter 10 000 oder 20 000 Euro Grundsteuer bezahlen müssen. Vom größten Tübinger Grundsteuer-Zahler kassierte die Stadt bisher 44 000 Euro und künftig etwa 48 300 Euro pro Jahr.