Dienstag, 23. März 2004
Leserbrief: "Menschlich empörend"
Schwäbisches Tagblatt, Di 23.3.2004

Hier geht es um Tübingens Kulturpolitik im Allgemeinen und um das Verhältnis zwischen der Oberbürgermeisterin und dem Kulturamtschef im Besonderen (siehe auch die heutige 1. Lokalseite).

Die Stadt, in der laut FAZ (zitiert im TAGBLATT vom 18. März) Stadtteilbibliotheken geschlossen und gleichzeitig Referenten für den Wettbewerb "Stadt der Wissenschaft" abgestellt werden, ist ja wohl Tübingen. Man könnte dem noch einiges hinzufügen, zum Beispiel, dass dieser Möchtegern-Wissenschaftsstadt ein Ausflugslokal wichtiger ist als das Heranführen von Jugendlichen an Naturwissenschaften und die ungehinderte Weiterführung der Sternführungen in der Sternwarte; mal sehen, ob nach Öffnung des Lokals noch die Sternführungen für Kinder im Rahmen des Sommerferienprogramms möglich sind!

Noch ein zweites Manko macht Tübingen für eine Wissenschaftsstadt ungeeignet: die große Diskrepanz zwischen vorhandenem Fachwissen und dem Desinteresse der politisch Verantwortlichen, es für ihre Entscheidungen und damit zum Wohle der Bevölkerung zu nützen. Da veranstaltet die HNO-Klinik jährlich einen Anti-Lärm-Tag und informiert über die gesundheitlichen Schäden durch Lärm ? und wie reagiert die Stadtverwaltung darauf? Sie lässt immer noch mehr Lärm zu. Oder: Warum wurden die Astronomen nicht von vornherein wegen der Umgestaltungspläne für die Sternwarte konsultiert? Oder: Was sind dieser Stadt die Fachkompetenz, der Rat und das Engagement der Taubenfachfrau Petra Klingler wert?

Besonders krass tritt diese Diskrepanz zutage beim Umgang der derzeitigen Stadtspitze mit dem Stadtmuseum. Da gibt es zwei Fachleute: die Museumsmitarbeiterin, Frau Fastnacht, und den Kulturamtsleiter, Herr Setzler. Beide werden seit einiger Zeit wie nicht existent übergangen - und dies, obwohl Frau Russ-Scherer durch ihre Beurteilungen der Grafiksammlung und des Stadtmuseums selbst mehrmals demonstriert hat, wie wenig sie davon versteht, ja, dass ihr nicht einmal der Unterschied zwischen einem Museum und einer Ausstellungshalle und der zwischen Kultur- und Kunstgeschichte bewusst ist. Niemand verlangt von ihr, dass sie alles weiß. Aber man erwartet von ihr, dass sie sich Rat holt von den Fachleuten in ihrem eigenen Haus, um dann fachkundig fundierte Entscheidungen fällen zu können. Dass Herr Setzler nicht Mitglied der Delegation war, die Tübingen als "Stadt der Wissenschaft" präsentierte, spricht für sich. Wie Frau Russ-Scherer ihn und seine Mitarbeiter/innen behandelt, finde ich menschlich empörend und für Tübingens Kultur ausgesprochen schädlich.

Dr. Adelheid Schlott, Tübingen, Falkenweg 10