Dienstag, 23. März 2004
Tübinger Linke / PDS: Eine Chance für die SPD?
Die SPD allein kann das linke Wählerpotential nur noch in Ausnahmesituationen (gegen Irak-Krieg) mobilisieren. Die Neue Mitte ist sich zu fein, die Modernisierungs-Verlierer anzusprechen. Das nützt bisher dem rechten Pupulismus. Dass es auch andere Möglichkeiten gibt, beschreibt der SPD-Forscher Franz Walter in der Süddeutschen vom 22.3.2004:
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Wer gibt Danton an?

Linkspopulismus: eine Chance für die SPD / Von Franz Walter

Das Gespenst des Linkspopulismus geht um. Den Sozialdemokraten droht die Spaltung, es droht eine neue, gleichsam linksgewerkschaftliche Partei. Doch wovor fürchten sich die Sozialdemokraten so sehr? Die Antwort scheint banal zu sein, und man bekommt sie in schöner Regelmäßigkeit von den parteioffiziellen Funktionären zu hören: Spaltung bedeutet Schwächung des eigenen Lagers. Doch ist dies eine rein mathematisch-arithmetische Rechnung. Die politische Dynamik von Spaltungen verläuft oft anders, bringt nicht selten Bewegung in starre Fronten, eröffnet häufig neue Zugänge, erweitert vielfach gar das soziale und politische Gelände.

Man hat das schon bei der Gründung der "Grünen" beobachten können. Für die Sozialdemokraten bedeutete das bereits damals, in den frühen achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts, eine Spaltung des linken Lagers. Und viele in der Schröder-Müntefering-Partei betrachten die Grünen noch heute als die ungezogenen, verwöhnten Kinder der großen sozialdemokratischen Kernfamilie. Und tatsächlich speisten sich die Anfangserfolge der Öko-Partei vom Fleisch des SPD-Elektorats. Dadurch dezimierten sich die sozialdemokratischen Wähleranteile beträchtlich; die Partei rutschte seit 1983 wieder unter die 40-Prozent-Grenze und verlor dadurch die Regierungsfähigkeit.

Aber die Grünen waren von Anfang an zugleich auch ein sozialkulturell genuin bürgerliches Projekt, eine Partei erst der Studenten, dann der akademischen Humandienstleister. Und als bürgerliche Formation erzielten sie bald erhebliche Erfolge in bürgerlichen Wohnquartieren, in Professorenvierteln, bei
Chefarztkindern, Apothekerehefrauen, Lehrerehepaaren. Das hat die FDP, die zuvor in diesen wohlständigen Milieus reüssierte, in den achtziger und neunziger Jahren erheblich geschädigt, hat sie flächendeckend unter die
Fünf-Prozent-Hürde gedrückt, hat der CDU auf diese Weise in vielen Bundesländern den entscheidenden Koalitionspartner genommen - und hat schließlich zur Minderheitenpositionen des altbürgerlichen Lagers 1998 und 2002 auf der nationalen Ebene geführt.

Die proletarisch-kleinbürgerliche SPD wäre allein nie mit Erfolg in die bürgerlichen Lebenswelten und Villengegenden eingedrungen. Sie brauchte dafür ein linkes, aber eben bürgerliches Vehikel, das neue Stimmen rekrutierte und dann mit den eigenen facharbeiterlichen Voten zur neuen Majorität von Rot-Grün addieren konnte. Kurz: Durch die Spaltung der Linken hatte sich ihr soziales Spektrum erheblich erweitert, war auch die traditionelle politische Isolation der Sozialdemokratie durchbrochen. Die Koalitions- und Bündnismöglichkeiten der Linken hatten sich fortan historisch bemerkenswert vermehrt.

Die Christdemokratie in Europa hat in den letzten 15 Jahren ähnliche Erfahrungen gemacht. Kurze Zeit nach den postmaterialistischen-ökologischen Parteien bildeten sich europaweit auch rechtspopulistische Protestorganisationen um Le Pen, Haider, Pim Fortuyn und andere. Ihr erstes Opfer waren vor allem die konservativ-katholischen Parteien, deren frustrierte Wähler sich in Teilen der neuen Rechten anschlossen. Alle Welt glaubte damals, Anfang der neunziger Jahre, dass von dieser Spaltung der bürgerlichen Rechten die europäische Sozialdemokratie profitieren würde. Und es begann dann ja auch die Glanzzeit der "dritten Wege" und "neuen Mitten".

Doch die Neue-Mitte-Politik der Sozialdemokraten ließ die Unterschichten zurück: die alte Arbeiterklasse, die unorganisierten Arbeitslosen- und Sozialhilfegruppen der modernen Wissensgesellschaften. In diese Quartiere der neuen europäischen Unterschichten stießen jetzt die rechtspopulistischen Bewegungen vor, wozu die honoratiorenhaften altbürgerlich-christdemokratischen Parteien aus sich heraus von ihrer Establishment-Position nie in der Lage gewesen wären. Der neue Rechtspopulismus aber machte das bürgerliche Lager proletarischer, volkstümlicher, plebiszitärer. Er nahm dadurch den Sozialdemokraten große Wähleranteile fort und gliederte sie schließlich - etwa in den Niederlanden und in Österreich - in Regierungskoalitionen mit den konservativ-christdemokratischen Parteien ein. Erst die rechtspopulistische Spaltung des bürgerlichen Lagers also erweiterte, öffnete das bürgerliche Spektrum - und machte es erneut gegen die Linke mehrheitsfähig.

So ging es soeben auch in Hamburg bei den Bürgerschaftswahlen zu. Dort fungierten die Rechtspopulisten gleichsam als Zwischenwirt für die Wanderung der großstädtischen Unterschichten von der SPD in das bürgerliche Lager, in die CDU des Herrn von Beust. Das ist derzeit die Situation. Und das ist die entscheidende Ursache für die Malaise der Sozialdemokratie: sie hat sich von der Arbeiterklasse, von den Unterschichten der deutschen Gesellschaft abgekoppelt, mental weit entfernt, habituell scharf getrennt, materiell distinktiv abgehoben, politisch kühl distanziert. Keiner der gegenwärtigen Sozialdemokraten aus der Parteiführung ist noch in der Lage, das untere Fünftel der Gesellschaft auch nur stilistisch anzusprechen, ihre Lebenswelt zu repräsentieren und politisch auszudrücken. Und deshalb verliert die SPD Wahl um Wahl.

Insofern müsste die SPD im Grunde über eine zugkräftigen, dynamischen, attraktiven Linkspopulismus heilfroh, geradezu erleichtert sein. Denn das würde der deutschen Linken die Chance zurückgeben, entheimatete Wählerschichten zu erreichen, ohne die sie bei überregionalen Wahlen künftig nicht mehr mehrheitsfähig sein wird. Das Problem ist nur: die neuen Parteigründer, die sich bisher öffentlich für eine Abspaltung stark machen, taugen nicht zu einem linken Populismus. Sie sind nicht die geeigneten Volkstribune für die politisch, ökonomisch und kulturell obdachlosen Menschen in den randständigen Trabantenvierteln der urbanen Zentren. Die potenziellen Parteigründer auf der Linken sind vielmehr durchweg ordentliche Gewerkschaftsfunktionäre, die Wert auf Organisation, Programme, Stetigkeit, Disziplin, Verlässlichkeit und all dergleichen gediegene Facharbeiter-/Angestelltenmentalitäten legen.

Die Lebenserfahrungen und Alltagserlebnisse der neuen städtischen Unterschichten aber fallen aus diesem Ordnungsraster heraus, weil sie dafür viel zu unordentlich, programmindifferent, diskontinuierlich, rhapsodisch, unstrukturiert, auch hedonistisch und konsumistisch sind. Nicht der Typus des korrekten Angestellten, ob nun in Gestalt des zähen Aufsteigers Müntefering oder eines biederen und kreuzbraven linker Gewerkschaftsfunktionärs, eignet sich als ihr Held, sondern viel eher der ungebundene politische Außenseiter und Charismatiker, der machohafte Kraftbolzen und lustvolle oder gar verwegene Provokateur der Politik.

Diesen Typus an der Spitze braucht ein neuer Linkspopulismus, will er wirklich Erfolg haben. Gibt es ihn, dann werden die Karten in der Republik in der Tat neu gemischt. Und es ist keineswegs sicher, dass das linke Lager in diesem Fall weiter abschmilzt, dass die politische Rechte als Gewinner aus diesem Spiel hervorgeht. Das Gegenteil ist wahrscheinlich. Aber zu diesem Gegenteil muss man Mut, politische Energie, organisatorische Wucht und ganz unzweifelhaft eine rhetorisch kraftvolle, instinktsichere, eben unbekümmert populistische Danton-Gestalt ganz vorne haben.

Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen.

Quelle: Süddeutsche Zeitung Nr.68, Montag, den 22. März 2004 , Seite 13