Freitag, 16. April 2004
Leserbrief: Kranzniederlegung für Kiesinger
veröffentlicht im Schwäbischen Tagblatt vom Samstag, 10.4.04

Vor einem Monat ist die deutsch-französische Journalistin Beate Klarsfeld zu Gast im LTT, eingeladen im Rahmen der offiziellen Veranstaltungen zum Frauentag, unter der Schirmherrschaft von OB Russ-Scherer. Sie spricht engagiert über ihre antifaschistische Arbeit, bekannt geworden ist sie durch die Ohrfeige für Kiesinger wegen seiner Nazi-Vergangenheit. Großer Beifall im LTT.

Am Dienstag nahm Frau Russ-Scherer an einer Kranzniederlegung für Kiesinger teil. Ein Schlag ins Gesicht von Frau Klarsfeld. Daß von der CDU im Land nichts anderes zu erwarten ist, die sich nie gescheut hat, Filbinger und Kiesinger für ihre "besonderen Verdienste" zu ehren und würdigen, ist mittlerweile klar, aber daß eine SPD Oberbürgermeisterin den 100. Geburtstag von Kiesinger begeht, ist nicht nachzuvollziehen. Als Bürgerin dieser Stadt finde ich diese Ehrung beschämend.

Kiesinger war stellvertretender Abteilungsleiter an der Schnittstelle zwischen Außenministerium und Goebbels Propagandaministerium und war nur kurz nach der Machtübernahme Anfang 1933 bereits NSDAP-Mitglied. Da sei das Gedenken den Angehörigen überlassen, die ihm persönlich verbunden waren. Beate Klarsfeld sagte zu der Ohrfeige damals u.a.: "Die Ohrfeige galt allen Kiesingers und Thaddens, die Demokratie sagen, wenn sie Notstandsdiktatur meinen, die Frieden sagen, wenn sie mehr Waffen kaufen, die Versöhnung sagen, aber die Grenzen in Europa nicht anerkennen wollen." Was wird Beate Klarsfeld wohl jetzt sagen, wenn sie von der Tübinger Ehrung Kiesingers durch OB Russ-Scherer erfährt?

Heike Hänsel, Am Lustnauer Tor 4, 72074 Tübingen