Freitag, 16. April 2004
Leserbrief: "Wegbereiter von Nazi-Verbrechen"
tuel-pds, 16:28h
veröffentlicht im Schwäbischen Tagblatt am Mittwoch, 14.4.04
Zum 100. Geburtstag von Ex-Bundeskanzler Kiesinger habe ich hier an ihn ein paar persönliche Erinnerungen. 1956 zog Familie Kiesinger ins Haus an der oberen Ecke Goethestraße/ Untere Schillerstraße. Bei einer Landschaftsgärtnerei beschäftigt, brachten wir dort den Garten in Ordnung. Kiesinger ließ sich von mir Pflanzen erklären, da er von Botanik leider sehr wenig Ahnung habe. Das fände ich schade, sagte ich ihm, denn das wäre doch ein schöner Ausgleich zu seiner schweren parlamentarischen Arbeit (als Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags). Es war ja die hohe Zeit des Kalten Krieges und der Wiederaufrüstung, denn am 17. August 1956 wurde die KPD verboten. Der ich damals angehörte.
Zu dritt da beschäftigt, wollte Kiesinger von uns wissen, woher wir stammten, und, da aus dem Osten, ob wir nicht wieder zurück wollten? Er war wohl sehr enttäuscht darüber, dass wir ihm sagten, wir würden hier bleiben und hätten uns gut eingelebt. Er meinte, dann müsse man wohl eines Tages einen Aufruf ans deutsche Volk machen, zur Wiederbesiedlung der deutschen Ostgebiete.
Dann wurde Kiesinger 1958 Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Ab da stand an den Eingängen zum Grundstück an der Goethe- und der Unteren Schillerstraße je ein Polizist zum Wache schieben. Der Fahrer seines Dienstwagens wartete draußen mitunter sehr lange auf seinen Herrn. Aber immerhin durften wir bei Bedarf auf seine Toilette. Seine Frau Marie-Luise brachte uns zur Vesperzeit um 9 Uhr 'ne Flasche Bier und Zigaretten. Wenn's draußen kalt war, in den Heizraum.
Nach dem KPD-Verbot bildete sich die politische Vereinigung "Aktion demokratischer Fortschritt - ADF", um an den nächsten Landtagswahlen teilzunehmen. Für diese leitete ich mal 'ne Wahlversammlung in einem Dorf bei Tübingen, an der mit einer Gruppe Jugendlicher auch Kiesingers Sohn teilnahm. Ob's das war? Jedenfalls kam ab da unsere Firma nicht mehr in Kiesingers Garten. Das machten dann Gärtner aus der "Wilhelma". War ich denn damals schon so "gefährlich"?
Nachzutragen ist: In nichtöffentlicher Sitzung beschloss der Tübinger Gemeinderat das ehemalige prominente Mitglied der NSDAP und Ex-Bundeskanzler Dr. h. c. Kurt Georg Kiesinger zum Ehrenbürger Tübingens zu machen. Jedenfalls haben wir damaligen DPD-Stadträte an dieser Verleihung des Ehrenbürgerrechts am 6. April 1979 nicht teilgenommen und stattdessen dagegen öffentlich protestiert. Übrigens gab es in Tübingen am Tag dieser unrühmlichen Verleihung eine antifaschistische Kundgebung gegen die Verjährung von Nazi-Verbrechen. Sehr widersprüchlich empfinde ich es, dass die Tübinger OB Russ-Scherer zwar die Heimkehrertafel mit Kriegsverbrechern drauf abhängen ließ, jetzt aber dem propagandistischen Wegbereiter von Nazi-Verbrechen zum 100. einen Kranz niederlegte. Fazit: Ehrenbürgerverleihungen sollten im Tübinger Rathaus nie mehr in nichtöffentlichen Sitzungen ausgekungelt werden.
Gerhard Bialas, Stadtrat der TüL/PDS, Tübingen, Weißdornweg 11
Zum 100. Geburtstag von Ex-Bundeskanzler Kiesinger habe ich hier an ihn ein paar persönliche Erinnerungen. 1956 zog Familie Kiesinger ins Haus an der oberen Ecke Goethestraße/ Untere Schillerstraße. Bei einer Landschaftsgärtnerei beschäftigt, brachten wir dort den Garten in Ordnung. Kiesinger ließ sich von mir Pflanzen erklären, da er von Botanik leider sehr wenig Ahnung habe. Das fände ich schade, sagte ich ihm, denn das wäre doch ein schöner Ausgleich zu seiner schweren parlamentarischen Arbeit (als Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags). Es war ja die hohe Zeit des Kalten Krieges und der Wiederaufrüstung, denn am 17. August 1956 wurde die KPD verboten. Der ich damals angehörte.
Zu dritt da beschäftigt, wollte Kiesinger von uns wissen, woher wir stammten, und, da aus dem Osten, ob wir nicht wieder zurück wollten? Er war wohl sehr enttäuscht darüber, dass wir ihm sagten, wir würden hier bleiben und hätten uns gut eingelebt. Er meinte, dann müsse man wohl eines Tages einen Aufruf ans deutsche Volk machen, zur Wiederbesiedlung der deutschen Ostgebiete.
Dann wurde Kiesinger 1958 Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Ab da stand an den Eingängen zum Grundstück an der Goethe- und der Unteren Schillerstraße je ein Polizist zum Wache schieben. Der Fahrer seines Dienstwagens wartete draußen mitunter sehr lange auf seinen Herrn. Aber immerhin durften wir bei Bedarf auf seine Toilette. Seine Frau Marie-Luise brachte uns zur Vesperzeit um 9 Uhr 'ne Flasche Bier und Zigaretten. Wenn's draußen kalt war, in den Heizraum.
Nach dem KPD-Verbot bildete sich die politische Vereinigung "Aktion demokratischer Fortschritt - ADF", um an den nächsten Landtagswahlen teilzunehmen. Für diese leitete ich mal 'ne Wahlversammlung in einem Dorf bei Tübingen, an der mit einer Gruppe Jugendlicher auch Kiesingers Sohn teilnahm. Ob's das war? Jedenfalls kam ab da unsere Firma nicht mehr in Kiesingers Garten. Das machten dann Gärtner aus der "Wilhelma". War ich denn damals schon so "gefährlich"?
Nachzutragen ist: In nichtöffentlicher Sitzung beschloss der Tübinger Gemeinderat das ehemalige prominente Mitglied der NSDAP und Ex-Bundeskanzler Dr. h. c. Kurt Georg Kiesinger zum Ehrenbürger Tübingens zu machen. Jedenfalls haben wir damaligen DPD-Stadträte an dieser Verleihung des Ehrenbürgerrechts am 6. April 1979 nicht teilgenommen und stattdessen dagegen öffentlich protestiert. Übrigens gab es in Tübingen am Tag dieser unrühmlichen Verleihung eine antifaschistische Kundgebung gegen die Verjährung von Nazi-Verbrechen. Sehr widersprüchlich empfinde ich es, dass die Tübinger OB Russ-Scherer zwar die Heimkehrertafel mit Kriegsverbrechern drauf abhängen ließ, jetzt aber dem propagandistischen Wegbereiter von Nazi-Verbrechen zum 100. einen Kranz niederlegte. Fazit: Ehrenbürgerverleihungen sollten im Tübinger Rathaus nie mehr in nichtöffentlichen Sitzungen ausgekungelt werden.
Gerhard Bialas, Stadtrat der TüL/PDS, Tübingen, Weißdornweg 11