Samstag, 1. Mai 2004
1. Mai-Rede von Gerlinde Strasdeit
Gerlinde Strasdeit

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Die Einführung des sogenannten Arbeitslosengeldes Zwei zum 1.1. nächsten Jahres sei nicht zu schaffen, hiess es letzte Woche kleinlaut. Es gebe software-Probleme. Man befürchtet ein Desaster wie bei der LKW-Maut.

Ich sage: Nein, das ist kein software-Problem - sondern wir haben ein hardcore Problem, das Millionen Arbeitslose, potentielle Arbeitslose und deren Angehörige in die Armut treibt. Die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe belastet zusätzlich die Kommunen. Deren Kompetenz in Sachen Arbeitsvermittlung ist gleich Null. Die kommunalen Verwaltungen werden zu Schnüffel - und Drangsalierungsdiensten degradiert.

Wir können die Tabellen des Arbeitslosengeldes 2 hoch und runter rechnen, für Familien mit Kindern, für Alleinstehende, für Ältere und Jüngere; immer dasselbe Ergebnis: Die Hartz-Reform greift Bedürftigen butal in die Tasche. Die Regierenden zwingen Arbeitslose zu unterbezahlten Jobs. Sie drohen mit Strafen. Aber sie schaffen keine neuen Arbeitsplätze. Das geht alle an, auch die, die Arbeit haben und in Billiglöhne abgedrängt werden.

Gehen wir ans Tübinger Uniklinikum: Mit dem heutigen 1. Mai beginnt für uns 8000 Beschäftigte in den Tübinger Kliniken der Ausstieg aus dem Flächentarif. Wer einen unbefristeten Arbeitsvertrag hat, hat gerade noch Glück. Wer das nicht hat oder neu eingestellt wird, muss zukünftig 41 Stunden arbeiten statt bisher 38,5. Das entspricht einer 6%igen Lohn- und Gehaltskürzung.

Die Arbeitgeber in der Metall-Branche konnten eine generelle Arbeitszeitverlängerung bislang nicht durchsetzen. Deshalb machen jetzt die Landesregierungen den schmutzigen Vorreiter.

Arbeitszeitverlängerung bedeutet speziell für die 70% Frauen im Klinikum weniger Vereinbarkeit von Kinder und Beruf.

Der nächste Hammer: am 29. Juni will der Klinikums-Aufsichtsrat die Tarifflucht besiegeln. Ab 1. Februar 2005 soll es weitere Lohneinbußen für Arbeiter und Angestellte geben, vor allem in den unteren Lohn- und Gehaltsbereichen.

Der Klinikumsvorstand argumentiert mit Budgetdeckelung, ihm fehlen Millionen im Etat. 300 Stellen sollen gestrichen werden. Bereits im letzten Jahr wurden 100 Stellen abgebaut, davon 60 in der Pflege. Im Reinigungsbereich und bei den Hol- und Bringdiensten wurden Stellen, das heisst immer auch Menschen, ausgelagert und damit ihre Arbeit billiger gemacht.

Die Beschäftigten haben sich bislang in Personalversammlungen und mit Protestaktionen gegen diese Entwicklungen gewehrt und wir werden noch eins draufsetzen müssen. Ver.di - Betriebsgruppe und Personalrat mobilisieren zur nächsten Aufsichtsratssitzung. Wir sagen: Nein zu Lohnkürzungen. Nein zum Tarifausstieg! Wir sagen: Von Arbeit muss man leben können!

Liebe Kolleginnen und Kollegen

die sogenannte Gesundheitsreform ist ein Kernpunkt der Agenda 2010, des größten Sozialabbauprogramms in der Geschichte der Bundesrepublik - und das unter einer Bundesregierung, die einst mit dem Anspruch angetreten war, soziale Gerechtigkeit herzustellen.

In der vergangenen Woche beschäftigte sich ein Fernsehmagazin damit, dass Kranke in Pflegeeinrichtungen künstlich ernährt werden, oft unsachgemäß, mit falscher Dosierung, und oft ohne, dass dazu die medizinische Notwendigkeit besteht, - einfach deshalb, weil niemand da ist, um bei der natürlichen Nahrungsaufnahme Hilfe zu leisten. Das ist Menschenverachtung pur!

Eine andere - neue - Erfahrung: Pflegekräfte in Krankenhäusern beklagen, dass Patienten oft zu früh entlassen werden und - das nennt man den Drehtüreffekt -
einige Tage später wieder notfallmäßig eingeliefert werden. Das alles ist Folge einer falschen Gesundheits- und Pflegepolitik. Das ist Ergebnis von Fallpauschalen, von Privatisierungseifer und Betriebswirtschaftlichkeitswahn im Gesundheitswesen.

Für das Tübinger Klinikum und seine neuen Außenstellen in Balingen, Ebingen, Hechingen heisst Betriebswirtschaftlichkeit auch: Abbau von Ausbildungsplätzen im Pflegebereich, allein in Balingen soll es nur noch 60 statt 180 Azubis geben, in Tübingen sollen 20 Azubi-Stellen gestrichen werden. Wo bleibt da die gesellschaftliche Verantwortung des Klinikumsvorstandes?

Zwischen Arzt und Patient ist demonstrativ der Geldbeutel getreten. Die 10 Euro-Praxisgebühr gilt selbst für Menschen, die in Altersheimen nur ein Taschengeld zur Verfügung haben. Die Praxisgebühr ist die Regelung, die durchgängig auf breiten Unmut gestossen ist. Hinzu kommen Zuzahlungen für Medikamente, Vorsorgeleistungen und medizinische Hilfsmittel. All das verschärft vorhandene Armut und produziert zusätzliche Armut.

Ich bin überzeugt: Wenn die Gewerkschaften gemeinsam mit Sozialverbänden und sozialen Bewegungen wenigstens diese 10-Euro-Abzocke zu Fall brächten, wäre das ein Erfolg und ein Ansatz, endlich wieder in eine soziale Offensive zu kommen.

Regierung und Arbeitgeberverbände sagen: es gäbe keine Alternative, das Gesundheitssystem ist nicht mehr finanzierbar. Wir sagen: Gesundheit für alle ist bezahlbar, wenn wir die solidarischen Elemente nicht beseitigen sondern stärken.
  • dazu gehört, dass ALLE, auch Selbstständige, Geschäftsführer und Manager, Beamte und Abgeordnete in die gesetzliche Krankenversicherung einzahlen.
  • dazu gehört, dass nicht ein Gestrüpp von 320 Krankenkassen mit unseriösen Angeboten wild um die Versicherten konkurriert.
  • dazu gehört die lang versprochene Positivliste und die Beschränkung der Profite der Pharmaindustrie.
  • dazu gehört, paritätische Finanzierung in der Sozialversicherung zu erhalten.
  • dazu gehört auch der alternative Vorschlag Wertschöpfungsabgabe. Arbeitgeber, die bei hohem Betriebsergebnis nur wenige Menschen beschäftigen, könnten bei Lohnnebenkosten mehr belastet werden.
  • und dazu gehört, Schluss zu machen - mit dem Märchen, dass Qualität und Effizienz gleich Privatisierung ist. Wir können Ärztehierarchien und Bürokratie abbauen OHNE zu privatisieren.
Liebe Kolleginnen und kollegen,

der 1. Mai ist international. International ist mehr als Europa, aber der heutige Tag steht unter dem Eindruck der EU-Osterweiterung.

Wir grüßen von hier aus die Kolleginnen und Kollegen und ihre Gewerkschaften in den baltischen Staaten, in Polen und Ungarn, in Slowenien, in Tschechien und der Slowakei, auf Malta und Zypern. Wir werden uns gemeinsam wehren und für unsere Rechte eintreten müssen. Wir wollen nicht, dass ganze Belegschaften und Regionen gegeneinander ausgespielt werden. Menschen sind mehr als Kostenfaktoren! Es fehlen - nicht nur bei uns, auch in den Beitrittsländern - Millionen Arbeitsplätze und Ausbildungmöglichkeiten. In Polen und der slowakischen Republik liegt die Jugendarbeitslosigkeit über 30 %, trotz Wirtschaftswachstum.

Europa braucht keine Verpflichtung zur Aufrüstung, wie dies im europäischen Verfassungsentwurf festgelegt ist. Europa braucht keine Milliarden-Investitionen in Aufrüstungsprojekte, Europa braucht keine Truppentransporter, keine militärische Eingreiftruppen und keine neuen Kriege in aller Welt. Auf all das verzichten wir. Diese Milliarden wollen wir für eine zivile Zukunft, für Gesundheit, für sichere Arbeitsplätze, für soziale Sicherung und Bildung.

Deshalb meine Aufforderung am heutigen Tag der EU-Osterweiterung: Kostenfaktoren aller Länder vereinigt Euch!

- Danke -