Samstag, 17. April 2004
Russ-Scherer, die TüArena, die fiktive Drittelfinanzierung, eine neue Variante des Modells Winko (SSV-Reutlingen) oder Wildmoser (München) ?
Aus dem Tübinger Wochenblatt vom 15. April 2004:

... Ob Kicker oder Korbjäger, ob Rom, Reutlingen oder Tübingen, die Strukturen sind überall dieselben. ... Selig, wer das sauber bleibt. ... Die neue Halle (TüArena) mit ihren 3000 Zuschauerplätzen spielt natürlich auch eine große Rolle im großen Spiel. Mit der Fertigstellung zum Saisonauftakt wird es nichts. Auch mit Kostensteigerungen hat jeder Nüchterndenkende rechnen müssen. Politisch problematischer ist die Drittelfinanzierung Stadt-Land-Vereine/Sponsoren. Die Stadtverwaltung hält sich bedeckt mit präzisen Wasserstandsmeldungen für das mutig mit 2,83 Millionen Euro angesetzte letzte Drittel und gesteht damit faktisch die Ebbe in der Kasse ein. Gerd Weimer, zur Rechenschaft im Gemeinderat vorgeschickt, wand sich. Die Opposition wäre eine blöde Opposition, würde sie in dieser Wunde nicht bohren. Und sie tut das - wieder mal nur in Gestalt von Störenfried Anton Brenner und seiner TÜL/PDS - auf eine Weise, die der Rathausspitze besonders wehtun muss, weil zum Schaden der Hohn kommt: Sie ruft zu Spenden auf und will im Wahlkampf sammeln für die Halle. Schadenfreude? Sicher auch ein wenig. Trotzdem ist eine Situation da, die durch peinliches Rumgedruckse kein bisschen leichter gelöst wird - Wahlkampf hin, Wahlkampf her. ...

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Freitag, 16. April 2004
Presse: Vier Ratsfraktionen kämpfen für das Werbebanner am Tübinger Stadtmuseum
Schwäbisches Tagblatt, Do 15.04.2004

Kultureller Bedeutungsträger

TÜBINGEN (sep). Der Prinzipienstreit über die Dauerbeflaggung des Stadtmuseums geht in die zweite Runde: Am kommenden Montag wollen vier Ratsfraktionen im Planungsausschuss per Beschluss durchsetzen, dass das Werbebanner am Kornhaus wieder aufgehängt wird.

Wie berichtet, darf das Tübinger Stadtmuseum seit nunmehr sieben Wochen nicht mehr Flagge zeigen. Ende Februar holte die Stadtverwaltung die vom zweiten Stockwerk herunter flatternde Fahne mit der Aufschrift "Stadtmuseum" ein. Was Hans-Otto Binder vom Verein der Museumsfreunde damals als "gezielten unfreundlichen Akt gegen das Stadtmuseum und alle, die es verteidigen", ansah, rechtfertigte Baubürgermeisterin Ulla Schreiber im Gemeinderat als rechtmäßigen Vollzug der Stadtbild-Satzung.

Dieses Regelwerk duldet in der Altstadt generell keine Werbeanlagen über dem Erdgeschoss. Nur ausnahmsweise, etwa bei Firmenjubiläen oder besonderen Veranstaltungen, dürfen die Hausbesitzer zwei Mal im Jahr für jeweils vier Wochen solche Hingucker an ihren Fassaden anbringen. Für die Fahne am Kornhaus schien das zehn Jahre lang nicht zu gelten. Erst als es laut Schreiber "massive Proteste von Händlern und Gastronomen über die Ungleichbehandlung von städtischen und privaten Gebäuden" gab, schritt die Bauverwaltung ein.

Diese Intervention brachte nun wiederum die Fraktionen von AL, FL, TÜL/PDS und FDP in Rage. Ihrer Ansicht nach gehört das Stadtmuseum - wie beispielsweise auch das Zimmertheater, die Stadtbücherei, die Kulturhalle und das Schloss - zu den "kulturellen Einrichtungen von herausragender Bedeutung im gesellschaftlichen Leben Tübingens". Mithin habe man es dort mit einer "deutlich anderen Gebäudekategorie" zu tun als bei den Privat- und Geschäftshäusern.

Die Fahne am Kornhaus, so heißt es in dem interfraktionellen Antrag weiter, weise nicht auf ein "wirtschaftliches Geschehen" hin, sondern diene Einheimischen wie Touristen gleichermaßen als Hinweis auf ein kulturelles Angebot. Insofern handle es sich bei der Museumsflagge keinesfalls um eine "Werbeanlage" im Sinne der Stadtbild-Satzung, sondern lediglich um ein "symbolisches Zeichen" - um einen "kulturellen Bedeutungsträger", der, so lautet der Beschlussantrag, "umgehend wieder an seinem ursprünglichen Ort anzubringen" sei.

Mit dieser Argumentation machten die vier Fraktionen, die es auf 18 der 48 Stimmen im Rat bringen, bei der Stadtverwaltung allerdings wenig Eindruck. "Die Fahne", so heißt es in ihrer Erwiderung, "kann bis zu einer eventuellen Änderung der Stadtbild-Satzung nicht wieder aufgehängt werden" - es sei denn, ausnahmsweise zu den oben genannten besonderen Anlässen.

Das wird den Fahnen-Freunden nicht gefallen, aber vielleicht gelingt es der Verwaltung ja, den am Montag im Planungsausschuss (Beginn der öffentlichen Sitzung: 16.15 Uhr im Rathaus) anstehenden Konflikt mit folgendem Angebot zu entschärfen: Der Gemeinderat könne in nächster Zeit, etwa im Workshop zur Stärkung der Altstadt, mal darüber diskutieren, ob in der Altstadt-Satzung unterschiedliche Regelungen für kulturelle und kommerzielle Werbung eingeführt werden sollten.

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Freitag, 9. April 2004
Sepp Wais und Eckhard Ströbel: Presse-Scharfrichter im Auftrag der Oberbürgermeisterin Russ-Scherer.
Öffentliche Hinrichtung. Kritiker der Rathausspitze werden im Schwäbischen Tagblatt (Amtsblatt) seit Jahren von den beiden Lokalredakteuren Sepp Wais und Eckard Ströbel lächerlich gemacht. Vor drei Jahren traf es Hans Schreiber, den Einzigen in der SPD-Fraktion, der sich noch kritisch über die Oberbürgermeisterin äußerte. Danach hat er sich zurückgehalten. Kritiker der Oberbürgermeisterin gehen in Tübingen ein großes Risiko ein. Jetzt traf es Heinz Stenz, weil er schon öfters mit der Tübinger Linken gegen den Blödsinn der Oberbürgermeisterin gestimmt hatte. Statt seinen Mut, die unmöglichen Zustände in der Verwaltung offen beim Namen zu nennen, zu loben, rächten sich die Vertrauten der Oberbürgermeisterin auf ihre Art. Oskar Lafontaine nannte diese Art von Journalismus vor Jahren „Schweinejournalismus“:

Schwäbisches Tagblatt. 01.04.2004
Peinlicher Ehrenkäs. Der Absturz von Amtsleiter a.D. Heinz Stenz

Es gehört zu den ungeschriebenen Gesetzen der Kommunalpolitik, dass sich die in Ehren ergrauten Täter vom Tatort ihrer amtlichen Blütezeit fern halten. ... Im Prinzip aber ist es für alle Beteiligten sicher besser, wenn sich die Ehemaligen aufs Altenteil zurückziehen und ihren Nachfolgern nicht ins Handwerk pfuschen. Ansonsten kann es leicht peinlich werden – wie am vergangenen Montag beim ersten großen Auftritt von Heinz Stenz im Tübinger Rat.
... Hätte er doch, was gerade sehr in Mode ist, über den Dreck in der Altstadt geklagt. Oder über die Finanznot. Tausend Themen hätte er in seiner Jungfernrede ansprechen dürfen – aber nicht dieses: den Verfall der ruhmreichen Tradition des Tübinger Standesamtes. Der überraschende Vorstoß war formal korrekt gekleidet in die Anfrage, ob sich die Eingliederung des Standesamtes in den Fachbereich „Bürgerdienste“ und der damit verbundene Umzug vom Rathaus in die Fruchtschranne „aus wirtschaftlichen und organisatorischen Gründen sowie zum Wohl der BürgerInnen als sinnvoll erwiesen“ hätten.
Die Antwort lieferte Stenz in seinen umfänglichen Ausführungen gleich mit: Natürlich nicht – „die früheren KollegInnen sind frustriert und völlig demotiviert“. Worauf prompt die Überleitung zum Ach-wie-war-es-doch-vordem folgte: Da waren die Mitarbeiter bei „sehr gutem Betriebsklima“ noch „hochmotiviert“ und die Bürger fühlten sich im Standesamt „gut aufgehoben“. ... Stimmt – und stinkt wie ehrenkäsiges Eigenlob! Warum nur hat sich niemand in der WUT-Fraktion des Kollegen erbarmt und bei Gelegenheit dessen unbestrittene und unvergessene Meriten gerühmt? Gerade Heinz Stenz hätte es verdient, dass man ihn vor dem Absturz in höchste Peinlichkeit bewahrt. So aber blieb den WUT-Räten nichts anderes als den übrigen Zuhörern in der Runde: Sie senkten ihre Häupter bedrückt auf die Bank, verdrehten ihre Augen zur Decke, feixten heimlich mit ihren Nachbarn – und warteten verschämt darauf, bis das Denkmal mit seiner Demontage fertig war.
Sepp Wais

Sepp Wais hätte auch berichten können, dass der SPD-Stadtrat Heribert Weber sich demonstrativ erhob, mit dem Hintern zum Gemeinderat an die Plakatwand neben der Oberbürgermeisterin stand, die Hände in den Hosentaschen. Erst auf den Zuruf von Stadtrat Anton Brenner: „Hände aus dem Sack, Herr Weber!“ beendete er seine Demonstration und schlich auf seinen Platz zurück.

Anders berichtete das Tübinger Wochenblatt am 7. April 2004:
„Da hat sich ein Mann im Gemeinderat zu Wort gemeldet, der als städtischer Beamter was galt, geschätzt, vielleicht sogar ein bisschen geliebt wurde als das menschenfreundlich-unkonventionelle Gesicht der Obrigkeit. ... Der Ausfall des politischen Nicht-Profis Heinz Stenz ließ sich natürlich locker verhöhnen und lächerlich machen – geschenkt, und schon auch ein wenig schäbig. ... Und man kann nebenbei wahrnehmen, dass auch er den Finger in eine Wunde gelegt hat, die bestimmt nicht nur „die Globalisierung“, die „harten Zeiten“ und der vermeintliche Zwang zu kalter betriebswirtschaftlicher Effizienz in seiner früheren beruflichen Lebenswelt gerissen haben. Vor Ort wird exekutiert – so oder anders. Und die Pinselstriche fügen sich zu dem Bild, die Stimmen, auch die schrägen, zum Chor.“

Am 1.4.2004 hatte auch Stadtrat Anton Brenner Stellung bezogen:
„Peinliche Presseattacke gegen Heinz Stenz

Was ist aus dem Schwäbischen Tagblatt geworden?

Weil der WUT-Stadtrat und langjährige Leiter des Tübinger Standesamt es wagte, die katastrophale Stimmung unter den Beschäftigten der Stadt Tübingen anzusprechen, versuchte der Rathausberichterstatter Sepp Wais ihn lächerlich zu machen. Besonders geärgert hat die Tagblatt-Berichterstatter Wais und Ströbel, dass Heinz Stenz zusammen mit Stadtrat Bosch schon mehrfach mit der Fraktion der Tübinger Linken / PDS gestimmt hat, - nicht zuletzt beim größten Flop der Oberbürgermeisterin, dem fast leerstehenden Technologiepark Obere Viehweide.

Als vor drei Jahren SPD-Stadtrat Schreiber noch wagte, die Oberbürgermeisterin zu kritisieren, wurde auch er von Sepp Wais im Schwäbischen Tagblatt lächerlich gemacht. Die Einschüchterung hat bei ihm ebenso gewirkt wie beim Bürgermeister Eugen Höschele.

Die Mitglieder unserer Fraktion sind es gewohnt, dass die beiden Rathausberichterstatter weder Häme noch Diffamierung scheuen, wenn sie über uns berichten.

Fast byzantinisch feiern sie jedoch die Oberbürgermeisterin und ihren FDP-Stadtrat Dietmar Schöning. In Verzückung geraten sie bei Berichten über den Lieblingsarchitekten der Oberbürgermeisterin, den neuen FDP-Kandidaten Eble.

Der stellvertretende Chefredakteur Ströbel pflegt in der Redaktion zu prahlen: „Wir berichten nicht über die Politik, wir machen Politik.“

Viele Stadträte lassen sich von der Oberbürgermeisterin und den Tagblattberichterstattern Wais und Ströbel einschüchtern, da sie Angst davor haben, bloßgestellt zu werden.

Die Mehrheiten, die in diesem Duckmäuserklima zustande kamen, haben für Millionen Fehlinvestitionen und Millionen für törichte externe Beratung gesorgt. Bezahlt haben die Kinder und jungen Familien.“

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Donnerstag, 8. April 2004
Presse: Übrigens ... Langsam wächst eine Bewegung
Schwäbisches Tagblatt, Fr 2.4.2004

Es ist noch keine 15 Monate her: Mehr als 2000 Demonstranten auf dem Tübinger Holzmarkt, Beifall für die Politik der Bundesregierung. SPD und Grüne sollten konsequent bleiben und sich dem bevorstehenden Angriff der USA auf den Irak verweigern, hieß es. Das war bundesweit eine der ersten großen Demonstrationen gegen den Irakkrieg und ein Vorbote für den folgenden weltweiten Protest-Frühling.

Eine ähnliche Zahl von Demonstranten wird sich morgen früh von Tübingen aus wieder auf den Weg zu einer Demo machen - zum "Protesttag gegen Sozialabbau" in Stuttgart. Die Veranstalter rechnen insgesamt mit mehreren zehntausend
Teilnehmern (siehe Seite 23).

Teilweise werden morgen sogar dieselben Leute demonstrieren wie damals im Januar 2003. Trotzdem ist vieles anders. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich das Pfeifkonzert vorzustellen, wenn auch diesmal ein Redner die Bundesregierung loben sollte. Was ist passiert?

Vor einem Jahr verkündete der Bundeskanzler seine "Agenda 2010" und behauptete, dazu gebe es "keine Alternative". Und zunächst sah es so aus, als ließen sich die meisten davon überzeugen. Im Mai 2003 riefen die Gewerkschaften zu einem ersten großen Protesttag gegen die "Agenda" - und kaum einer kam. Selbst in der Metaller-Hochburg Reutlingen Bosch!) standen keine 500 Leute auf dem Marktplatz. Ähnlich war es in anderen Städten, so dass DGB-Chef Michael Sommer kleinlaut eine "Protestpause" verkündete.

Doch bereits im Herbst wurde der Unmut vernehmlicher. Die hiesigen Globalisierungskritiker (etwa von "Attac") registrieren wachsenden Zulauf. An den Tübinger "Aktionswochen gegen Sozialabbau" beteiligte sich im Oktober ein breites Spektrum von Sozial-Initiativen, linken Aktionsgruppen und Gewerkschaftern. Zum Abschluss fuhren am 1. November zwei Reisebusse aus Tübingen und Reutlingen nach Berlin zur bundesweiten "Demonstration gegen Sozialkahlschlag". Dort zogen 100 000 durch die Straßen - eine Zahl, die wohl niemand erwartet hatte. Am wenigsten die Gewerkschaftsführungen, die diese Aktion schlicht verschlafen hatten.

Diesmal ist es anders herum. Morgen haben die Gewerkschaften das Heft fest in der Hand. Sie stellen die Logistik und kontrollieren die Redelisten. "Attac" und andere werden wieder zum "Umfeld" herabgestuft, auch wenn in Tübingen und Reutlingen enge Kontakte zwischen Gewerkschaften und Globalisierungskritikern bestehen.

Da braut sich eine neue Protestbewegung zusammen. Gewerkschafter in der Region berichten, dass ihnen die Leute wegen des morgigen Protesttags die Bude einrennen - auch Leute, die noch nie zuvor auf einer Demo waren. Vor allem der SPD (mehr als den Grünen) droht hier Ungemach, ist es doch ein Teil ihrer bisherigen Basis, den es nun auf die Straße treibt.

Eine mögliche neue Linkspartei, über die zuletzt in den bundesweiten Medien viel spekuliert worden ist, ist in der Region aber bisher kein Thema. Das mag auch daran liegen, dass diese Lücke die Tübinger Linke/PDS besetzt hält. Dass auf dieser Liste (aber nicht bei der SPD) auch Personal- und Betriebsräte des größten Dienstleistungs- und des größten Industriebetriebs kandidieren (Uniklinikum und Walter AG), müsste bei den führenden Sozialdemokraten die Alarmglocken läuten lassen. Die morgige Demo wird kaum zu ihrer Beruhigung beitragen. Michael Hahn

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Presse: Übrigens ... Vor und nach der Sitzung
Schwäbisches Tagblatt, Do 1.4.2004

Die Fragestunde ist im Tübinger Gemeinderat seit jeher ein Instrument der kleinen und weniger mächtigen Gruppen, jener Fraktionen, die sich in Opposition zur Ratsmehrheit oder zur Stadtverwaltung sehen. Wenn jemand über die Jahre Buch geführt hätte, wäre nachzulesen, dass Vertreter von FL, TÜL/PDS (früher DKP) oder AL häufiger Fragen stellten als ihre Kollegen von UFW, SPD oder CDU.

Ihre Sternstunden hatte die Fragerunde in den frühen 80er-Jahren, als alternative und kommunistische Stadträte den Alleinvertretungsanspruch der Rats-Honoratioren in Frage stellten. Auch die Stadtverwaltung trug mit eigenwilliger Auslegung der Geschäftsordnung dazu bei, dass den respektlosen Polit-Anfängern anfangs nur jene Rechte gewährt wurden, die ihnen nicht vorzuenthalten waren.

Die Neulinge tricksten: Sie wahrten die obligatorische Frageform und nutzten die Bühne, um Neuigkeiten publik zu machen ("Trifft es zu, dass ...?"), oder zu Themen Stellung zu nehmen ("Teilen Sie meine Meinung, dass ...?"), die nicht offiziell zur Debatte standen.

Zwanzig Jahre, nachdem der Streit um Geschäftsordnung, Minderheitenrechte und Öffentlichkeit - jedenfalls in Tübingen - ein akzeptables Ende fand, stellte TÜL/PDS-Stadtrat Anton Brenner mit elf umfangreichen Fragen einen Allzeit-Rekord auf. Er fragte zum x-ten Mal nach externer Beratung, Technologiepark, Großsporthalle und Südstadt-Parkhäusern, nach Depot, Leitbildprozess, Wirtschaftsförderung, Wissenschaftsstadt und anderem mehr.

Wenn er denn will, kann Brenner die Antworten im Haushaltsplan nachlesen. Aber es geht ihm um Wahlkampf-Munition. Er will die Oberbürgermeisterin und den Rat öffentlich vorführen. Brenners Aktion folgt diesem Muster: Man packe mehrere missliebige Themen in einen Sack und frage nach den Kosten. Je höher die Summe, desto triumphierender der Auftritt: So viel Geld gebt ihr für diesen Mist aus!

Brenner müsste seinen verbissenen Kleinkrieg gegen Rat und Verwaltung nicht in der Fragestunde austragen, denn anders als vor einem Vierteljahrhundert stehen die kontroversen Themen heute ständig auf der Tagesordnung und werden dort lang und breit erörtert.

Die Stimme von Brigitte Russ-Scherer wurde heiser, als am Montag ihre Geduld wieder einmal auf die Probe gestellt wurde. In solchen Situationen wünscht man sich, die OB würde die Zahlen ohne rechtfertigende Umschweife und ganz gelassen einfach nur nennen. Das TAGBLATT kommt auch damit zurecht, dass es präventiv beschimpft wird. Er gehe davon aus, dass die Presse über seine Anfragen nicht berichte, donnerte Brenner schon drei Tage vor der Sitzung (siehe Leserbriefe), "der Nachrichtenboykott ist fast perfekt". Eckhard Ströbel

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Presse: Busse und Züge zum "Protest gegen Sozialabbau"
aus dem Schwäbischen Tagblatt vom Freitag, 2.4.2004:

"Für Bernd Melchert, den Betriebsratsvorsitzenden der Tübinger Walter AG, richtet sich der morgige Protest "gegen die jetzige neoliberale Politik, also auch gegen die SPD". Melchert: "Auch mit dem neuen Parteivorsitzenden
wird das nicht besser." Vom Walter-Werkstor wird morgen ein eigener Bus nach Stuttgart fahren."

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Freitag, 2. April 2004
Anton Brenner fragt, Brigitte Russ-Scherer ist genervt und Gerd Weimer hat keine Ahnung
Gelesen im Reutlinger Generalanzeiger, 31.3.2004:

Tü-Arena - Bürgermeister bleibt konkrete Zahlen schuldig, will sie aber nachliefern. Im Haushalt sind zwei Millionen Euro durch private Zuschüsse eingeplant


Sponsoren für Sporthalle fehlen


TÜBINGEN. Wie teuer kommt Tübingen die neue Sporthalle? Was muss die Rathaus-Spitze den Stadträten mitteilen? Mit Befremden nahmen die Räte bei der Sitzung am Montag zur Kenntnis, dass Bürgermeister Gerd Weimer bei der Frage nach eingegangenen Sponsoren-Geldern konkrete Zahlen schuldig blieb.


Anton Brenner wollte es genau wissen. Für die Fragestunde hatte der PDS/TÜL-Rat die Verwaltung mit Anfragen eingedeckt und schriftlich detailliertes Zahlen-Material zu Kosten für externe Beratung, Technologie-Park, Parkhäusern, zur Bewerbung um den Titel »Stadt der Wissenschaft« und ähnlichem verlangt. Oberbürgermeisterin Brigitte Russ-Scherer reagierte sichtlich genervt.

Die meisten Zahlen hätte Brenner aus dem Haushalt und aus unzähligen Ratsvorlagen selber raussuchen können, ärgerte sich die Rathaus-Chefin. Auch in anderen Fraktionen wurde Kritik laut an Brenners Vorgehen. Kurt Sütterlin (FDP) fand die lange Liste »unerträglich«. So könne man eine Verwaltung auch tageweise lahm legen, hielten Ratskollegen dem PDS/TÜL-Mann vor.

Als Brenner wenig später wissen wollte, wie es mit der Finanzierung der Sporthalle (Tü-Arena) aussieht, die gerade im Bau ist, entschied sich Bürgermeister Gerd Weimer für allgemeine Ausführungen: Im Haushalt seien zwei Millionen Euro aus Spenden vorgesehen. Kommt die Summe nicht zusammen, muss die Stadt Grundstücke verkaufen. »Die Bemühungen um einen Namens-Sponsor laufen.« Doch die Lage sei nicht einfach.

AL-Rätin Margarethe Gönner wunderte sich. Ihr habe man die Frage, wie viel bisher zusammengekommen ist, im vorigen Jahr anstandslos beantwortet und den damaligen Zwischenstand mitgeteilt. Als Weimer nicht reagierte, hakte auch Hans Kost (CDU) nach: »Wie viel Sponsoren-Geld ist eingegangen?«

Doch diese Zahlen hatte der Bürgermeister nicht rausgesucht. Jetzt warten die Stadträte auf Donnerstag. Da tagt der Kultur- und Sport-Ausschuss. Weimer zurückhaltend: »Wir können versuchen, das bis dahin abzuklären.«

Die TÜL/PDS-Fraktion zeigte sich besser vorbereitet und verteilte im Anschluss an die Fragestunde eine Pressemitteilung, in der es hieß: »Der Förderverein Tü-Arena steht im Wort. Ein Drittel der Kosten - 2,83 Millionen Euro - müssen aufgebracht werden. Es wäre unverantwortlich jetzt aufzugeben.« Brenner und Co. wollen im Wahlkampf Spenden sammeln und betonen: »Obwohl wir die Kosten-Überschreitung um über 50 Prozent nicht mitgetragen haben, tun wir nun alles, damit die Stadt tatsächlich nur ein Drittel der Kosten tragen muss.« (-jk)

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Dienstag, 30. März 2004
Presse: 920 000 Euro für fünfzig soziale Einrichtungen
Schwäbisches Tagblatt, Sa 27.3.2004

Zuschüsse verteilt

TÜBINGEN (sep). Ohne größere Kontroversen hat der Sozialausschuss des Tübinger Gemeinderats die Zuschüsse für den Sozialbereich verteilt. Insgesamt schüttet die Unistadt heuer 920 000 Euro aus ? fünf Prozent weniger als 2003. Das Geld geht an 45 Vereine und Einrichtungen sowie in fünf Töpfe für die flexible Einzelförderung.

Mit Ausnahme von TÜL/PDS-Stadträtin Gerlinde Strasdeit, die heftig gegen die bereits in der Etat-Runde beschlossene Kürzung der städtischen Zuschüsse um fünf Prozent wetterte, erklärten sich alle in der Runde mit dem Zuteilungsvorschlag des Fachbereichs für Soziales einverstanden.

Dessen Sozialplaner Günther Sommer hatte sich in enger Abstimmung mit den Betroffenen große Mühe gegeben, die um 46 000 Euro reduzierten Fördermittel möglichst sinnvoll und bedarfsgerecht auf die Antragsteller zu verteilen. Für das Ergebnis seiner "hervorragenden Arbeit" handelte sich Sommer bei den Fraktionen ein dickes Lob ein. Alma Hämmerle, die den Stadträten im Namen der Empfänger versicherte, dass "alle einsehen, dass Abstriche notwendig sind", wollte dem Sozialplaner dafür sogar den Doktortitel verleihen.

Acht Einrichtungen, die bisher Zuschüsse aus der Stadtkasse bekamen, fielen diesmal ganz aus der Förderliste raus ? zumeist, weil der städtische Beitrag in ihrem Gesamtetat keine große Rolle mehr spielte. Betroffen davon sind unter anderem die Psychologische Beratungsstelle in der Brückenstraße (6140 Euro), die Telefonseelsorge (4600), die Aussiedlerbetreuung der Caritas (2050) und die
Bahnhofsmission (1640).

Die meisten der Empfänger ? insgesamt sind es 24 Vereine ? müssen sich in diesem Jahr mit einer Kürzung ihrer Zuschüsse um 5,7 Prozent abfinden. Bei einigen macht dieses Minus nur ein paar Euro aus. So verlieren etwa die Homosexuellen-Hilfe 29 Euro, der Stadtjugendring 44 Euro und die Hospizdienste 59 Euro. Bei anderen Einrichtungen werden aber einige tausend Euro im Budget fehlen. So müssen beispielsweise das Jugendzentrum Karlstraße mit 4324 Euro, die Begegnungsstätte Hirsch mit 3323 Euro und Pro Familia mit 2154 Euro weniger auskommen.

Acht andere Adressaten auf der Förderliste müssen (prozentual) noch mehr bluten. So bekommen etwa Terre des Femmes (minus 600 Euro) und Frauen International Tübingen (minus 1250 Euro) nur noch die Hälfte ihrer bisherigen Stadtknete. Bei neun weiteren Empfängern schien es Sozialplaner Sommer hingegen aus verschiedenen Gründen geboten, auf jegliche Einschnitte zu verzichten. Dazu gehören unter anderen der Schülertreff im Feuerhägle, der Verband Alleinerziehender Mütter und Väter, die beiden Tübinger Frauenhäuser und der Verein zur Schuldnerberatung.

Drei Vereine dürfen sich auf höhere Zuschüsse freuen: Die Sophienpflege bekommt für ihre Jugendarbeit auf dem Herrlesberg 4688 Euro mehr als im vergangenen Jahr. Beim Arche-Verein (Männerwohnheim) wurden 2560 Euro draufgepackt und bei der Tübinger Tafel 470 Euro. Schließlich finden sich auch noch einige Namen auf der Verteilerliste, die zuletzt ohne städtische Subventionen auskommen mussten. Die Nachbarschaftliche Selbsthilfe in der Stuttgarter Straße erhält 6710 Euro, der Schülertreff im Feuerhägle 5600 Euro, das Frauencafé im Epplehaus 5000 Euro und die Frauenselbsthilfe nach Krebs 971 Euro.

An der Rangliste der größten Zuschuss-Empfänger im Sozialbereich hat sich durch die aktuellen Umschichtungen wenig geändert. Ganz oben stehen da noch immer die beiden Frauenhäuser, die zusammen über 115 000 Euro bekommen. Dahinter folgen das Epplehaus (66 536), die Hirsch-Begegnungsstätte (54 967), die Beratungsstelle für Ältere (53 609) und der Verein für Schuldnerberatung (46 000). Wie lange die Sozialvereine mit den neu austarierten Fördersätzen rechnen dürfen, ist allerdings ungewiss. Sollte sich die finanzielle Lage der Stadt nicht deutlich verbessern, so hat es der Gemeinderat bereits in der Etat-Runde 2004 angekündigt, werden die Zuschüsse im nächsten Jahr um weitere fünf Prozent gekürzt.

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Samstag, 27. März 2004
Presse: Rund ums Tübinger Schimpfeck
aus dem Tübinger Wochenblatt, Do 25. März 2004
  • Es gibt eine geniale Karrikatur von Sepp Buchegger, die ungefähr so in Erinnerung geblieben ist: Da sitzt eine Reihe von lauter kleinen Brigitte Russ-Scherers brav auf dem Bänkchen und wartet auf Anweisungen. Und die große BRS sagt freundlich-bestimmt etwa: "Na, Mädels, was steht an?"
  • Es gibt einen von rund 200 Menschen aus der Kulturszene unterschriebenen offenen Brief, den das "Tagblatt" in minimal-möglicher Chronistenpflicht kommentarlos abgedruckt hat. Kein beißendes Pamphlet, kein flammender Appell keine ätzende General-Abrechnung. In freundlichen, fast schon milden Worten kritisieren die Autoren und Unterzeichner einen Richtungswechsel: Die OB bevorzuge einseitig eine Event-Kultur "zu Ungunsten des gewachsenen Kulturlebens dieser Stadt". Beinahe schon versteckt fallen stärkere Vokabeln wie "verachten, beschädigen, ausbluten lassen" für das Hausgemachte. Der zweite Kern des Protests ist eine Solidaritätsadresse für den Kulturamtsleiter und den Fortbestand seiner kleinen Behörde. Wilfried Setzler ist viel zu nobel, korrekt,und bescheiden (aber bestimmt auch seiner Sache, seiner Kompetenz und seiner Verdienste sicher genug), um auf solche Worte gewartet zu haben: Er werde "demontiert", heißt es da, und: "Die Missachtung, die ihm und seinem Lebenswerk widerfährt, ist ein Unrecht..."Wer? Was? Wen? Es steht nur zwischen den Zeilen.
  • Es gibt eine Zimmertheater-Intendantin, die ihr Amt sehr direkt - am vormaligen Königsmacher (dem tübingen-müden "Tagblatt"-Chef) vorbei - der tatendurstigen Oberbürgermeisterin verdankt. Vera Sturm dürfte ihre Gönnerin eigentlich kaum gemeint haben. Aber sie hat trotzdem öffentlich gesagt: Das Klima in der Stadt sei "verbittert und voll Gift und Galle". Wer? Wie? Was?
  • Es gibt in Tübingen einen fast schon gespenstischen Kommunalwahlkampf, dem es eigentlich nicht an Themen mangeln müsste, der aber bislang nur eines hat: die Oberbürgermeisterin.
  • Die Stadt wird scheinbar erfolgreich und effizient regiert, von einer kompetenten, machtbewussten und taktisch geschickten Frau, deren Ruf vielleicht schon bis zur Waterkant gedrungen ist. Keines der vielen Tübinger Probleme erhitzt und spaltet die Bürgerschaft (oh, selige Mühlstraßen-Zeiten!), niemand bläst zum entschlossenen Kampf gegen Entscheidungen, gar schlimme Fehler der Rathausspitze oder des Gemeinderats.
  • Wo ist das Problem? Ja, wo? Wir sind unversehens und zur Unzeit mitten in einen jahrelangen OB-Wahlkampf geraten. Bisher hat die fähige, erfolgreiche und durchsetzungsstarke Brigitte Russ-Scherer nur eine Gegnerin, die Misstimmung macht und ein verbittertes Klima "voll Gift und Galle" schafft. Dieses Gespenst geht um in Tübingen...
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    Dienstag, 23. März 2004
    Tübinger Linke / PDS: Eine Chance für die SPD?
    Die SPD allein kann das linke Wählerpotential nur noch in Ausnahmesituationen (gegen Irak-Krieg) mobilisieren. Die Neue Mitte ist sich zu fein, die Modernisierungs-Verlierer anzusprechen. Das nützt bisher dem rechten Pupulismus. Dass es auch andere Möglichkeiten gibt, beschreibt der SPD-Forscher Franz Walter in der Süddeutschen vom 22.3.2004:
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    Wer gibt Danton an?

    Linkspopulismus: eine Chance für die SPD / Von Franz Walter

    Das Gespenst des Linkspopulismus geht um. Den Sozialdemokraten droht die Spaltung, es droht eine neue, gleichsam linksgewerkschaftliche Partei. Doch wovor fürchten sich die Sozialdemokraten so sehr? Die Antwort scheint banal zu sein, und man bekommt sie in schöner Regelmäßigkeit von den parteioffiziellen Funktionären zu hören: Spaltung bedeutet Schwächung des eigenen Lagers. Doch ist dies eine rein mathematisch-arithmetische Rechnung. Die politische Dynamik von Spaltungen verläuft oft anders, bringt nicht selten Bewegung in starre Fronten, eröffnet häufig neue Zugänge, erweitert vielfach gar das soziale und politische Gelände.

    Man hat das schon bei der Gründung der "Grünen" beobachten können. Für die Sozialdemokraten bedeutete das bereits damals, in den frühen achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts, eine Spaltung des linken Lagers. Und viele in der Schröder-Müntefering-Partei betrachten die Grünen noch heute als die ungezogenen, verwöhnten Kinder der großen sozialdemokratischen Kernfamilie. Und tatsächlich speisten sich die Anfangserfolge der Öko-Partei vom Fleisch des SPD-Elektorats. Dadurch dezimierten sich die sozialdemokratischen Wähleranteile beträchtlich; die Partei rutschte seit 1983 wieder unter die 40-Prozent-Grenze und verlor dadurch die Regierungsfähigkeit.

    Aber die Grünen waren von Anfang an zugleich auch ein sozialkulturell genuin bürgerliches Projekt, eine Partei erst der Studenten, dann der akademischen Humandienstleister. Und als bürgerliche Formation erzielten sie bald erhebliche Erfolge in bürgerlichen Wohnquartieren, in Professorenvierteln, bei
    Chefarztkindern, Apothekerehefrauen, Lehrerehepaaren. Das hat die FDP, die zuvor in diesen wohlständigen Milieus reüssierte, in den achtziger und neunziger Jahren erheblich geschädigt, hat sie flächendeckend unter die
    Fünf-Prozent-Hürde gedrückt, hat der CDU auf diese Weise in vielen Bundesländern den entscheidenden Koalitionspartner genommen - und hat schließlich zur Minderheitenpositionen des altbürgerlichen Lagers 1998 und 2002 auf der nationalen Ebene geführt.

    Die proletarisch-kleinbürgerliche SPD wäre allein nie mit Erfolg in die bürgerlichen Lebenswelten und Villengegenden eingedrungen. Sie brauchte dafür ein linkes, aber eben bürgerliches Vehikel, das neue Stimmen rekrutierte und dann mit den eigenen facharbeiterlichen Voten zur neuen Majorität von Rot-Grün addieren konnte. Kurz: Durch die Spaltung der Linken hatte sich ihr soziales Spektrum erheblich erweitert, war auch die traditionelle politische Isolation der Sozialdemokratie durchbrochen. Die Koalitions- und Bündnismöglichkeiten der Linken hatten sich fortan historisch bemerkenswert vermehrt.

    Die Christdemokratie in Europa hat in den letzten 15 Jahren ähnliche Erfahrungen gemacht. Kurze Zeit nach den postmaterialistischen-ökologischen Parteien bildeten sich europaweit auch rechtspopulistische Protestorganisationen um Le Pen, Haider, Pim Fortuyn und andere. Ihr erstes Opfer waren vor allem die konservativ-katholischen Parteien, deren frustrierte Wähler sich in Teilen der neuen Rechten anschlossen. Alle Welt glaubte damals, Anfang der neunziger Jahre, dass von dieser Spaltung der bürgerlichen Rechten die europäische Sozialdemokratie profitieren würde. Und es begann dann ja auch die Glanzzeit der "dritten Wege" und "neuen Mitten".

    Doch die Neue-Mitte-Politik der Sozialdemokraten ließ die Unterschichten zurück: die alte Arbeiterklasse, die unorganisierten Arbeitslosen- und Sozialhilfegruppen der modernen Wissensgesellschaften. In diese Quartiere der neuen europäischen Unterschichten stießen jetzt die rechtspopulistischen Bewegungen vor, wozu die honoratiorenhaften altbürgerlich-christdemokratischen Parteien aus sich heraus von ihrer Establishment-Position nie in der Lage gewesen wären. Der neue Rechtspopulismus aber machte das bürgerliche Lager proletarischer, volkstümlicher, plebiszitärer. Er nahm dadurch den Sozialdemokraten große Wähleranteile fort und gliederte sie schließlich - etwa in den Niederlanden und in Österreich - in Regierungskoalitionen mit den konservativ-christdemokratischen Parteien ein. Erst die rechtspopulistische Spaltung des bürgerlichen Lagers also erweiterte, öffnete das bürgerliche Spektrum - und machte es erneut gegen die Linke mehrheitsfähig.

    So ging es soeben auch in Hamburg bei den Bürgerschaftswahlen zu. Dort fungierten die Rechtspopulisten gleichsam als Zwischenwirt für die Wanderung der großstädtischen Unterschichten von der SPD in das bürgerliche Lager, in die CDU des Herrn von Beust. Das ist derzeit die Situation. Und das ist die entscheidende Ursache für die Malaise der Sozialdemokratie: sie hat sich von der Arbeiterklasse, von den Unterschichten der deutschen Gesellschaft abgekoppelt, mental weit entfernt, habituell scharf getrennt, materiell distinktiv abgehoben, politisch kühl distanziert. Keiner der gegenwärtigen Sozialdemokraten aus der Parteiführung ist noch in der Lage, das untere Fünftel der Gesellschaft auch nur stilistisch anzusprechen, ihre Lebenswelt zu repräsentieren und politisch auszudrücken. Und deshalb verliert die SPD Wahl um Wahl.

    Insofern müsste die SPD im Grunde über eine zugkräftigen, dynamischen, attraktiven Linkspopulismus heilfroh, geradezu erleichtert sein. Denn das würde der deutschen Linken die Chance zurückgeben, entheimatete Wählerschichten zu erreichen, ohne die sie bei überregionalen Wahlen künftig nicht mehr mehrheitsfähig sein wird. Das Problem ist nur: die neuen Parteigründer, die sich bisher öffentlich für eine Abspaltung stark machen, taugen nicht zu einem linken Populismus. Sie sind nicht die geeigneten Volkstribune für die politisch, ökonomisch und kulturell obdachlosen Menschen in den randständigen Trabantenvierteln der urbanen Zentren. Die potenziellen Parteigründer auf der Linken sind vielmehr durchweg ordentliche Gewerkschaftsfunktionäre, die Wert auf Organisation, Programme, Stetigkeit, Disziplin, Verlässlichkeit und all dergleichen gediegene Facharbeiter-/Angestelltenmentalitäten legen.

    Die Lebenserfahrungen und Alltagserlebnisse der neuen städtischen Unterschichten aber fallen aus diesem Ordnungsraster heraus, weil sie dafür viel zu unordentlich, programmindifferent, diskontinuierlich, rhapsodisch, unstrukturiert, auch hedonistisch und konsumistisch sind. Nicht der Typus des korrekten Angestellten, ob nun in Gestalt des zähen Aufsteigers Müntefering oder eines biederen und kreuzbraven linker Gewerkschaftsfunktionärs, eignet sich als ihr Held, sondern viel eher der ungebundene politische Außenseiter und Charismatiker, der machohafte Kraftbolzen und lustvolle oder gar verwegene Provokateur der Politik.

    Diesen Typus an der Spitze braucht ein neuer Linkspopulismus, will er wirklich Erfolg haben. Gibt es ihn, dann werden die Karten in der Republik in der Tat neu gemischt. Und es ist keineswegs sicher, dass das linke Lager in diesem Fall weiter abschmilzt, dass die politische Rechte als Gewinner aus diesem Spiel hervorgeht. Das Gegenteil ist wahrscheinlich. Aber zu diesem Gegenteil muss man Mut, politische Energie, organisatorische Wucht und ganz unzweifelhaft eine rhetorisch kraftvolle, instinktsichere, eben unbekümmert populistische Danton-Gestalt ganz vorne haben.

    Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen.

    Quelle: Süddeutsche Zeitung Nr.68, Montag, den 22. März 2004 , Seite 13

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